Meine Geschichte 2008/2

2008/2

Mein Vater sagt immer, im nächsten Leben kommt er nur noch als Judy auf die Welt. Und auch ich selbst denke oft aus Trotz, wenn ich mal wieder irgendetwas mangels Hilfe nicht, nicht entsprechend meiner Vorstellung oder Zeitvorgabe erledigen kann, dass ich es dann eben in meinem nächsten Leben mache. Mein nächstes Leben – wie wird das wohl sein, wo wird das sein, wann wird das sein und wer werde ich sein? Wer möchte ich sein? Als ich das erste Mal darüber nachgedacht habe, schoss mir sofort ein Gedanke durch den Kopf: „Oh Gott, hoffentlich werde ich kein Mann!“ – sorry Jungs! :o) Nee, nee, nee, das könnte ich mir wirklich nicht vorstellen. Genauso wenig möchte ich jemand sein wie Paris Hilton oder Britney Spears, wobei ich nicht unbedingt ihre Persönlichkeit als vielmehr ihr Leben und ihre (Selbst-)Darstellung in der Öffentlichkeit meine. Generell möchte ich nicht berühmt,  prominent oder – noch schlimmer – ein Möchtegern-Promi sein. Auch stinkreich zu sein oder Mitglied in der Highsociety mit getuntem Körper, Schlauchboot-Lippen und nicht mehr abstellbarem Dauergrinsen im Gesicht wäre heute für mich nicht denkbar. :o) Aber auch das andere Extrem wäre schlimm. Es gibt überall auf der Welt Menschen, die in Krieg, Unterdrückung, Hunger, Krankheit, Armut, und Ausbeutung leben. Viele Menschen sind großer Gewalt und Willkür ausgesetzt. In einem Land geboren zu werden, in dem ein Menschenleben nicht geachtet wird, in dem die Menschenrechte nicht beachtet werden, ist aus meiner heutigen Sicht unvorstellbar. Ist es eigentlich möglich, dass meine Seele auf einem anderen Kontinent wieder ins Leben zurückfindet? Ich habe nämlich in letzter Zeit häufiger Sendungen zum Thema Wiedergeburt bzw. Rückführung in ein früheres Leben verfolgt und mir ist aufgefallen, dass die Personen immer schon einmal auf dem Kontinent gelebt haben wollen, auf dem sie auch heute leben – Deutsche hatten ein Leben in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland oder Skandinavien, Amerikaner dagegen erinnerten sich an ein Leben in den USA, Kanada, Mittel- und Südamerika. Komisch, oder? Während ich mich durchaus damit abfinden könnte, ein weiteres Leben irgendwo in Europa zu leben, versetzte mich eine andere Erkenntnis dieser Sendungen in Angst und Schrecken: Die große Mehrheit der unter Hypnose nach ihrem vorherigen Leben befragten Personen nannten Jahreszahlen zwischen 1500 und 1900! Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich ein paar Hundert Jahre warten möchte, um dann im Jahr 2387 wiedergeboren zu werden. Ich fände es schöner, dass ein Mensch gehen muss, damit ein anderes Leben entstehen kann – dann wäre der Tod nicht sinnlos. Na, zum Glück ist das Leben kein Wunschkonzert…und was auch immer danach kommen mag auch nicht! :o) Je mehr ich darüber nachdenke, wer ich wann und wo lieber nicht sein möchte, desto mehr wird mir bewusst, dass ich im Grunde niemand anderes als ich selbst im Hier und Jetzt sein möchte. Natürlich wäre ich lieber gesund, aber wie hat es Robert L. Stevenson formuliert: „Im Leben geht es nicht darum gute Karten zu haben, sondern auch mit einem schlechten Blatt gut zu spielen“.

Früher habe ich immer gedacht, ich wäre meinem Leben hilflos ausgeliefert, ich wäre ein Opfer von lauter Umständen, die ich nicht ändern kann. Dabei hätte ich damals ALLES tun können, denn ich hatte super Karten! Ich habe aber nie gewusst was ich wirklich will, habe viele Chancen nicht als solche erkannt und sie achtlos vertan. Trotz aller Sinnlosigkeit frage ich mich heute manchmal, warum ich das erst jetzt erkannt habe. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in bestimmten Momenten einfach nur etwas mehr Mut gehabt und eine Entscheidung getroffen bzw. mich anders entschieden hätte? :o( Wahrscheinlich ist es leichter mutiger zu sein und mehr Risiken einzugehen, wenn man nicht mehr viel zu verlieren hat, denn seit ich ohne Zukunft, ohne Beruf und Partner dastehe, bin ich mutiger denn je und überrasche mich ständig selbst. Bereits der Schritt, mit Hilfe einer Homepage meine ALS-Erkrankung, meine Lebensgeschichte, öffentlich zu machen, war für meine Verhältnisse extrem mutig. Aber mein Mut ist belohnt worden! Ich bin stolz, dass ich schon jetzt mehr Menschen erreicht habe, als ich mir jemals hätte vorstellen können – Mitte April zählte ich 300.000 Zugriffe in nicht einmal zwei Jahren! :o) Auch die Reaktionen sind größer und vielfältiger als ich erwartet hätte. In unzähligen Gästebuch-Einträgen und E-Mails wird nicht nur die Gestaltung und Übersichtlichkeit, die Mischung aus umfassender Information und Emotion positiv betont sondern auch meine offene, ehrliche und trotz allem humorvolle Art zu schreiben gefällt vielen Menschen. Über 300 Betroffene, deren Angehörige, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen und Nachbarn haben bisher Kontakt mit mir aufgenommen, zahlreiche Ärzte, Krankenschwestern, Pflegekräfte, Therapeuten, Hospiz-Mitarbeiter und Psychologen haben ihre Bewunderung für meinen Umgang mit der Erkrankung zum Ausdruck gebracht und ich bekomme auch viel positive Resonanz von Menschen, die mehr oder weniger zufällig auf meine Homepage gestoßen sind und bis zu diesem Zeitpunkt noch nie von der Krankheit ALS gehört hatten. Darüber hinaus haben schon einige TV- und Printmedien ihr Interesse an meiner Lebensgeschichte gezeigt und entsprechende Berichte veröffentlicht. Allerdings habe auch ich selbst durch meine Homepage eine Möglichkeit gefunden, meiner Familie und Freunden meine Gedanken und Gefühle mitzuteilen, wie es in dieser Ausführlichkeit mündlich nicht mehr möglich wäre. Ich habe viele liebe Menschen kennengelernt, Kontakte zu früheren Freunden, ehemaligen Mitschülern, Arbeitskollegen und Kommilitonen herstellen können – dem Internet sei Dank! Die Erstellung und Pflege meiner Website hat meinem Leben endlich wieder einen Sinn gegeben. Deshalb wünsche ich mir, dass sie über meinen Tod hinaus als Informationsquelle und Austauschplattform bestehen bleibt.

Diese und andere Gründe haben – zu meiner grenzenlosen Überraschung und Freude – die Nominierungskommission dazu bewogen, aus 1900 eingereichten Vorschlägen meine Homepage auszuwählen und für den Grimme Online Award 2008  zu nominieren!!! :o)) Ich kann es noch immer kaum glauben und wenn ich keine Ohren hätte, würde ich vor Freude im Kreis grinsen! Nachdem ich die Liste der anderen Web-Angebote gesehen hatte, hatte ich meine Bewerbung ja eigentlich gedanklich abgehakt und nicht unter Mut sondern unter Übermut verbucht. Natürlich hatte ich auch niemandem von meiner Bewerbung erzählt. Dementsprechend verwirrt war mein Vater, als ihm eine Mitarbeiterin des Adolf-Grimme-Institutes telefonisch gratulierte und die Nachricht meiner Nominierung überbrachte. Ich konnte hören, dass er zunächst nur Bahnhof verstand und als er nach dem Telefonat zu meiner Mutter sagte: „Sandra ist mit ihrer Homepage für den Grimme Preis nominiert“ musste ich lachen. Ich hatte mich mal wieder selbst unterschätzt – typisch! :o) Kurze Zeit später erhielt ich die Bestätigung des Grimme-Institutes per E-Mail. Meine Website ist – neben der Mediathek des ZDF und der Plattform Hobnox.com – in der Kategorie SPEZIAL nominiert worden, die innovative und herausragende Seiten auszeichnet, die nicht in eine der anderen drei Kategorien passen. Allein das ist schon eine große Ehre! Im Statement der Nominierungskommission bzw. in der Vorstellung der Nominierten heißt es:

 

„In der Kategorie SPEZIAL ist auch eine persönliche Website als publizistische Einzelleistung nominiert, die auf völlig andere Weise Potenziale des Internets auslotet: Sandra Schadek berichtet über die tödlich verlaufende Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) - aus der Sicht einer Betroffenen. Die regelmäßige Aktualisierung ihrer Website kostet sie aufgrund ihrer Erkrankung viel Zeit und Mühe. Und doch gelingt es ihr, Texte zu verfassen, die auch Außenstehende interessieren, Wissen über die seltene Krankheit vermitteln und ihre Lebensfreude ausdrücken. Das klar strukturierte und schlicht gehaltene Web-Angebot steht exemplarisch für die Möglichkeiten, die das Internet bietet, direkt und ohne Mittler Informationen zu verbreiten, die sonst möglicherweise nie den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätten.“

 

Insgesamt wurden in den vier Kategorien – Information, Wissen und Bildung, Kultur und Unterhaltung, Spezial – 19 Web-Angebote nominiert. Nun entscheidet eine unabhängige Jury aus Journalisten, Medienwissenschaftlern, Internet-Experten und Fachleuten aus Kultur und Bildung über die jeweiligen Preisträger der vier Kategorien, die am Abend des 11. Juni auf einer Gala in Köln ausgezeichnet werden. Außerdem kann jeder Internet-User bis zum 8. Juni, 24 Uhr, bei TV SPIELFILM Online aus allen nominierten Websites seinen Favoriten für den Publikumspreis wählen. Ich finde das alles einfach unglaublich, aber es ist tatsächlich wahr! :o) Los – alle abstimmen!

Am Tag der Bekanntgabe der Nominierten am 08. Mai passierten gleich mehrere seltsame Dinge. Zunächst erinnerte mich der Counter meiner Homepage eher an einen Stromzähler – er stieg sekündlich an und zählte unheimliche 10.000 Klicks allein an diesem einen Tag! Aber auch Outlook schien vor Freude vollkommen durchgedreht zu sein und auf seine ganz eigene Art im Kreis zu grinsen. :o) Die E-Mail über meine Nominierung sendete es nämlich ununterbrochen wieder und wieder und war durch nichts zu bremsen. Sorry – ich weiß, dass sie einigen 15 Mal gesendet wurde und ihr regelrecht bombardiert wurdet. Aber: Outlook hat auch in umgekehrter Richtung völlig verrückt gespielt und jede der über 300 Glückwünsche ebenfalls 15 Mal abgerufen – ja genau, ich hatte im Laufe des Tages fast 5.000 Mails im Posteingang! :o) Ich habe praktisch einen ganzen Tag mit dem Löschen von Nachrichten verbracht und war danach entsprechend Fingerlahm. Ich bitte um eine Runde Mitleid für mich – Danke! Angesichts der vielen Reaktionen habe ich irgendwann kapituliert und entschieden, mich nicht bei jedem einzelnen persönlich zu bedanken. Hoffentlich seid ihr nicht enttäuscht und wisst, dass ich mich über jede Mail und jeden Gästebuch-Eintrag sehr gefreut habe. Nachdem sich Outlook wieder eingekriegt hatte, fing mein Körper an zu spinnen. Praktisch aus dem Nichts bekam ich einen unerklärlichen, anstrengenden und ziemlich nervenden Reizhusten. Ich konnte vor lauter Husten kaum sprechen, geschweige denn lange am Laptop arbeiten. Bei jedem Hustenanfall habe ich unabsichtlich so viel Unfug zusammen geklickt, dass ich mehrere Tage überhaupt nicht ins Internet gehen konnte – Höchststrafe! Zum Glück machte wenigstens das Wetter im Mai keine Mätzchen. Ich hielt meine Nase in die Sonne und es herrschte Grillhähnchen-Alarm! :o) Sobald ich entspannt auf meiner Liege lag und nicht sprach war der Husten deutlich geringer, aber bei der kleinsten Bewegung bzw. Anstrengung schüttelte es mich durch. Sowohl meine Hausärztin als auch ein benachbarter Lungenfacharzt hörten bzw. klopften meine Lunge ab, um eine mögliche Lungenentzündung, Verschleimung oder Aspiration auszuschließen. Aber meine Lunge war absolut frei und unauffällig. Schließlich baten wir einen Wolfsburger Osteopathen um Hilfe, der mich schon des Öfteren „gerettet“ hat – Uwe ist sozusagen mein Engel. :o) Er lockerte mein mittlerweile völlig verkrampftes Zwerchfell, sowie meine Galle und Leber, die ja bekanntlich für Mut und Wut steht. Beide sind in den letzten Wochen natürlich erheblich strapaziert worden. Die Erkrankung meines Vaters, die vielen Monate der Einarbeitung und schmerzvollen Verluste liebgewonnener Pflegekräfte, das wiederholte Abschiednehmen von ALS-Betroffenen, die Sorge um werdende Mütter, Väter und Babys, mein Vorschlag und die Nominierung für den Grimme Online Award – vielleicht war das alles einfach etwas zu viel Aufregung auf einmal für mich.

Der Mai blieb aufregend. Mitte des Monats feierte mein Vater seinen 65-Geburtstag bei strahlendem Sonnenschein mit einer großen Gartenparty. Tags zuvor hatte sich Kerstin am Rücken verletzt und fiel für den Rest der Woche krankheitsbedingt aus. Meine Mutter hatte sofort das Panik-„P“ in den Augen, aber zum Glück konnte der Pflegedienst alle Einsätze von Kerstin übernehmen. Allerdings erfuhren wir auch, dass mit Ramona erneut eine liebgewonnene Pflegekraft den Pflegedienst verlassen wird. :o( Ich hatte mir ja fest vorgenommen, mich nicht mehr an einzelne Personen zu klammern, so dass ich sie ohne dass es mir das Herz zerreißt gehen lassen kann. Aber das war leichter gesagt als getan! Wenige Tage später begann jedoch schon die Einarbeitung der neuen Kraft und es war nicht schwer, Stephanie in mein Herz zu schließen. Sie war auch noch relativ jung, hatte jedoch bereits einige Erfahrung in der Pflege und Betreuung von neurologisch erkrankten Patienten. Dadurch fielen ihr einige Handgriffe und auch die Verständigung etwas leichter. Leichter – gutes Stichwort. Nachdem ich im März erschrocken feststellen musste, dass ich innerhalb eines halben Jahres zwei Kilogramm verloren hatte, war ich sehr beunruhigt. Ich bat Normen mich mal wieder auf den Arm zu nehmen – das macht er zwar eigentlich ständig, aber unter Einsatz völlig anderer Muskelpartien. :o) Im Gegensatz zu Herrn Meier hatte ich erneut Gewicht verloren – noch einmal zwei Kilo in nur zwei Monaten! Also wenn das in diesem Tempo weiter geht, sehe ich wirklich bald so aus, wie die platten Menschen in der „Deutschland quatscht sich leer“- Werbung von T-Mobile. Wenigstens klang nach zwei endlos langen Wochen mein Husten langsam ab – obwohl der Mai weiterhin ziemlich aufregend für mich war. Im Intranet von Volkswagen erschien ein Bericht über meine Nominierung und bescherte mir erneut 10.000 Klicks an einem Tag. Ich bekam viele liebe Mails von früheren Arbeitskollegen, ehemaligen Leichtathleten und Trainern sowie von VW-Mitarbeitern aus verschiedenen Werken. Alle versprachen für den Publikumspreis zu voten. Merci! Die Preisverleihung des Grimme Online Awards rückte immer näher und ich war hin und her gerissen zwischen meinem unbedingten Wunsch, die Auszeichnung in Köln live mitzuerleben, und meiner Angst, der enormen körperlichen und emotionalen Anstrengung und Aufregung nicht gewachsen zu sein. Aber es gab noch ganz andere Bedenken und Probleme: Nicht nur die Organisation eines für mich möglichst bequemen Transportes, Essen, Trinken oder Toilettengänge, auch die notwendige Übernachtung im Hotel stellte – ohne meine Spezial-Matratze – eine zu große Herausforderung dar. :o( Schließlich musste ich mich schweren Herzens gegen eine persönliche Teilnahme an der Preisverleihung und für eine würdige Vertretung entscheiden. Obwohl ich zunächst Bedenken hatte, meine Ma und meine kugelrunde Schwester nach Köln zu schicken, schien es doch die beste aller möglichen Alternativen zu sein. Damit ich an diesem Tag wenigstens gut aussehe, ließ ich mich dem Anlass entsprechend aufhübschen – Tanja und Laura brachten wieder Farbe in meine Haare und Elke, eine Freundin meiner Mutter, zauberte mir einen unwiderstehlichen Augenaufschlag ins Gesicht. Ich war – zumindest optisch – gewappnet! :o)

Am 11. Juni war es dann soweit – Nina und meine Mutter machten sich am Vormittag per ICE auf nach Köln. Am Bahnhof wurden sie bereits vom Fahrservice von Mercedes-Benz abgeholt und in ihr Hotel gefahren. Nach einem Stadtbummel am Nachmittag stieg die Anspannung und als sie schließlich am Abend bis zum Roten Teppich vorgefahren wurden, war selbst mein Neffe total rappelig. :o) Im Blitzlichtgewitter der Fotographen versuchten sie möglichst schnell den vermeintlich Pressefreien Eingangsbereich der Vulkanhalle zu erreichen – aber „Pressefreiheit“ war natürlich auch hier nicht gegeben und die beiden lächelten fleißig in die Kameras. Einige schöne Beweisfotos findet ihr in der Bildergalerie. Nachdem alle der etwa 250 geladenen Gäste aus den Bereichen Medien, Kultur und Politik sowie die Anbieter bzw. Vertreter der nominierten Websites empfangen worden waren, begann die feierliche Preisverleihung. Durch den Abend führte Katrin Bauerfeind, die im Jahr 2006 den Grimme Online Award für „Ehrensenf“ erhalten hatte, das musikalische Rahmenprogramm bildete Annamateur, Gewinnerin des diesjährigen Kleinkunstpreises. Außerdem begleiteten fünf prominente Medienvertreter die Verleihung als Preispaten und Laudatoren. Die Moderatorin des Politmagazins „Panorama“, Anja Reschke; der beim Grimme-Preis 2008 zweifach nominierte Schauspieler Matthias Koeberlin; der Comedian Hennes Bender; die Schauspielerin und Grimme-Preisträgerin Josefine Preuß und Sascha Lobo, Autor und Preisträger des Grimme Online Award 2006. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen und zugleich unendlich traurig, dass ich nicht dabei sein konnte, aber ich hatte mit meiner Mutter ausgemacht, dass sie mich – wenn möglich – während der Verleihung anrufen, wenn der Preis in der Kategorie „Spezial“ und der Publikumspreis vergeben wird. Simone Gründken vom Adolf-Grimme-Institut, die uns bereits in den Wochen vor der Verleihung so nett betreut hatte, machte es möglich – um 21:15 Uhr klingelte dann endlich das Telefon! :o) So war ich doch live dabei, als Sascha Lobo den Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“ an hobnox.com überreichte und Matthias Koeberlin verkündete, dass meine Homepage tatsächlich den Publikumspreis gewonnen hat. Ich war glücklich, dankbar und sprachlos – und das will schon was heißen! Tausend Dank an alle, die für mich abgestimmt haben. Nina brüllte ins Telefon: „Sandra, du hast gewonnen!“ bevor sie gemeinsam mit meiner Mutter auf die Bühne gebeten wurde, um den Preis entgegen zu nehmen. Ich hatte mich im Vorfeld geweigert, mir zu überlegen, was Nina im Fall der Fälle zum Dank sagen sollte – das bringt nämlich Unglück. Nun hatte ich das Glück auf meiner Seite und Nina musste improvisieren, was sie hervorragend und ohne ein einiges „äh“ tat. Überzeugt euch selbst: Sandra Schadek - ALS gewinnt Grimme Online Award (Youtube). Noch während Nina in Köln redete, wählte sich Vater die Finger wund, um die Familie und einige Freunde zu informieren. Ich saß auf dem Sofa und grinste vor mich hin – von einer übermütigen „Schnapsidee“ zum Grimme Online Award! Wer kann das schon von sich behaupten.

An Schlaf war in dieser Nacht überhaupt nicht zu denken – ich lag mit Puls 160 im Bett und träumte mit offenen Augen von Preisen und Kreisen! Trotz Schlafentzug war ich am nächsten Tag fit wie nie. Meine Ergotherapeutin Celine stellte bei der Therapie amüsiert fest, dass meine Ohren mittlerweile kein Hindernis mehr darstellen und meine Mundwinkel sich ohne Probleme schon mehrfach getroffen haben! :o) Ich dagegen hatte bereits erste Bedenken, ob mein Dauergrinsen jemals wieder weggehen würde – hatte Nina in ihren Dankesworten nicht irgendwas von „einem Jahr grinsen“ gesagt? Das könnte durchaus anstrengend werden. Am Nachmittag überschlugen sich die Ereignisse. Erstmal wurde ich von allen Seiten mit herzlichen, blumigen und rührenden Glückwünschen überhäuft, dass mir und meinem Lächeln schon ganz schwindelig wurde. :o) Dann meldeten sich einige Online-Dienste und die Presse – es gab diverse Interview-Anfragen, Fragen bezüglich meinem Einverständnis zur Verwendung von Bild- bzw. Textmaterial meiner Homepage usw. Zum Glück hatte Lars Landmann, ein befreundeter Fotograf, kurz vor der Preisverleihung ein paar schöne Bilder für die Zeitschrift „Lisa“ von mir gemacht, die ebenfalls eine Reportage über mich und mein Leben mit der Krankheit ALS veröffentlichen wollten. Einige dieser Berichte findet ihr unter „Zeitungs- bzw. Onlineberichte“ in der Linkliste. Schließlich folgte die Krönung des Nachmittags: „It’s coming home“ oder wie Oliver Kahn sagen würde: „Jaaaa, da ist das Ding!“ Nina präsentierte mir stolz den schönsten aller „Pokale“ – meinen Grimme Online Award! :o) Der Preis ist wirklich sehr schön, rechteckig, ganz aus Glas mit einer ins Glasinnere gelaserten Inschrift:

 

2008     Publikumspreis     sandraschadek.de     Grimme Online Award

 

Bei solchen Anlässen zahlt es sich aus einen ausgebildeten Fotografen in der Familie zu haben. Mirko lichtete mich und das Prunkstück gekonnt vor einer gelben, von meiner Ma und Nina gehaltenen, Tischdecke ab. Bitte lächeln – eine meiner leichtesten Übungen! :o) Kurze Zeit später verging mir allerdings kurzfristig mein Lachen, denn aufgrund der hohen Zugriffe auf meine Homepage drohte der Server mit Streik und zeigte Detlef Soodmann von Wavetool fast die Rote Karte. Schock! Er kündigte an, im Notfall meine Homepage für ein paar Stunden vom Netz nehmen zu müssen, bis sich die Lage nach Feierabend wieder etwas beruhigt. Oje! Zum Glück spielte am Abend bei der Fußball-Europameisterschaft Deutschland gegen Kroatien und die Zugriffe reduzierten sich vor Spielbeginn deutlich – so wurde „unser“ Verlust zu meinem Gewinn, denn meine Seite konnte online bleiben. :o)

In den Tagen nach der Auszeichnung hieß es erstmal wieder Ruhe einkehren zu lassen. Mein Husten meldete sich spontan zurück und zeigte mir auf, dass ich mein Stress- und Aufregungslimit erneut überschritten hatte. Ich reduzierte die Zeit am Laptop, ruhte mich mehr aus und genoss das herrliche Sommerwetter unter dem Sonnenschirm. Durch das Tohuwabohu der letzten Wochen sind leider viele Dinge zu kurz gekommen. So möchte ich mich von ganzem Herzen bei Jens Kirsch und den VW-Betriebsräten der IG-Metall bedanken, die den Erlös ihres Fußballspiels jedes Jahr für einen guten Zweck spenden – und in diesem Jahr trug der gute Zweck unter anderem auch meinen Namen. Vielen Dank! Außerdem danke ich allen, die mir Briefe, Postkarten, DVDs, CDs, Bücher, Blumen und andere Geschenke geschickt haben – und natürlich freue ich mich nach wie vor über die vielen Mails und Gästebuch Einträge. Leider schaffe ich es seit einigen Monaten nicht mehr, die Gästebuch-Einträge zu beantworten und manchmal muss ich auch bei der einen oder anderen Mail passen  Bitte seid mir nicht böse, falls ich nicht antworten kann. :o( Ein großes Dankeschön geht an diejenigen, die mir durch ihre Hinweise und Anregungen oder sogar durch persönliche Hilfsangebote gezeigt haben, dass auch völlig fremde Menschen bereit sind, sich für andere zu interessieren und einzusetzen. Meine Freundin Katja aus Frankfurt hat mir angeboten, mich bei sämtlichen Vorsorgemaßnahmen und Wünschen, die ich erledigen, besprechen, festlegen möchte, zu unterstützen. Es gibt so viele Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, über die ich mich erst umfassend informieren müsste. Da Katja bereits ihren Vater und Stiefvater verloren hat, ist nicht nur ihre Angst geringer, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, auch ihr Wissen um die Wichtigkeit dieser Regelungen sowohl für den Betroffenen als auch für die Angehörigen ist aus eigener Erfahrung sehr ausgeprägt. Ich erstellte eine (lange) Liste aller Punkte, die mir am Herzen liegen, und als Katja wieder in Wolfsburg war, besprachen wir diese ausführlich. Ich war danach ziemlich erleichtert, denn jetzt gab es in meinem näheren Umfeld jemanden, der zumindest ungefähr wusste, was ich möchte bzw. was ich nicht möchte und wie ich mir bestimmte Sachen vorstelle. Katja war danach dagegen ziemlich belastet, denn um die notwendigen Informationen zusammentragen und verstehen zu können, müsste man eigentlich erst ein Jurastudium absolvieren. :o) Aber Katja blieb hartnäckig und biss sich durch – Danke Süße! Durch Katjas Hilfe fiel mir eine große Last von den Schultern, allerdings türmte sich auch schon der nächste Brocken auf. Viele Leser meiner Geschichte hatten mich bereits ermutigt ein Buch zu schreiben – und jetzt, nach der Auszeichnung mit dem Grimme Online Award, war ich praktisch in der Pflicht dies zu tun, denn mein leichtsinniger Deal lautete: Ein Preis – ein Buch! Selbstverständlich stehe ich zu meinem Wort und versuche das Buch-Projekt schnellstmöglich in Angriff zu nehmen und umzusetzen. Überraschenderweise erhielt ich schon kurze Zeit später mehrere Angebote renommierter Verlage, die großes Interesse daran hatten, aus meiner Geschichte ein Buch zu machen. Manche Dinge passieren einfach. :o)

Ab Mitte Juni normalisierte sich mein Leben langsam wieder. Eigentlich ist das eine glatte Lüge, denn das, was ich heute als „normal“ bezeichne, hätte mich vor ein paar Wochen vermutlich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Es ist erstaunlich, wie gut ich diesen großen aber positiven Stress trotz der bei ALS bestehenden Stressanfälligkeit verkraftet habe. Noch erstaunlicher finde ich allerdings, wie schnell ich dieses deutlich stressigere Leben als ganz normal empfinde. Man gewöhnt sich anscheinend wirklich an fast alles. Überhaupt scheint das Verständnis von Normalität ein äußerst relatives zu sein. Es passiert mir nämlich häufig, dass ich in meiner Geschichte Dinge schreibe, über deren Wirkung auf andere Menschen ich mir erst durch ihre Reaktionen bewusst werde. Es hört sich bestimmt etwas merkwürdig an, aber ich „vergesse“ in meinem Alltagstrott, in meiner Gedankenwelt manchmal völlig, dass das, was für mich mittlerweile normal ist, für andere Menschen sehr schockierend, traurig, bewegend oder bewundernswert ist – für mich ist es einfach nur mein Leben. Bewegungen, Geräusche oder Gedanken die für mich alltäglich sind erschrecken andere oft dermaßen, dass ich mich meinerseits erschrecke und irritiert frage, was ich getan oder gesagt habe. :o) Zum Beispiel muss ich bei manchen…vielen… den meisten Bewegungen vor Anstrengung aufstöhnen und mich merkwürdig verrenken, um die Bewegung noch ausführen zu können, wofür ich sehr oft entsetzte Blicke ernte – für mich ist das aber normal. Wenn ich stehe, knickt ab und zu mein linker Fuß komplett um, so dass jeder spontan auf einen dreifachen Bänderrisses tippen würde – aber auch das ist ganz normal bzw. nicht zu vermeiden, zumindest nicht solange ich stehen möchte und kann. Wenn ich nach dem Toilettengang ohne Hilfe „frei“ stehe, muss mein Kopf die Wand berühren, um mir zusätzlichen Halt zu bieten. Daher ist es unvermeidlich, dass ich mir hin und wieder mal die Rübe stoße und bei allzu schwungvollen Bewegungen meiner Helfer beim Hochziehen der Hose im gleichen Takt gegen die Wand dotze – normal. Diese Sachen gehören nun mal zu meinem Leben, ich finde sie natürlich nicht schön, aber ich habe mich daran gewöhnt, bestimmte Dinge nicht beeinflussen, verhindern oder ändern zu können – und was ich nicht ändern kann, das kümmert mich kaum mehr und lässt mich in vielen Situationen entspannter bleiben. So hatten mich noch im letzten Sommer die kleinen Gewitterfliegen wahnsinnig gemacht. Dieses Jahr habe ich akzeptiert, dass ich sie durch keine Verrenkung der Welt loswerden kann und lediglich die Wahl habe, mit ihnen draußen zu sein oder ohne sie drinnen zu bleiben. :o) Also lag ich in dem Bewusstsein auf meiner Sonnenliege, alles was krabbelt und kitzelt nicht verscheuchen zu können. Und plötzlich störte es mich kaum noch bzw. war das große Bedürfnis zuzuschlagen oder hinzufassen nahezu weg. Das soll nicht heißen, dass mein Empfinden ein anderes war, aber das Bedürfnis, dass dieses Empfinden in meinem Kopf auslöste, hatte sich verändert.

Ähnliches passiert, wenn ich beobachte wie Judy im Garten auf einmal aufspringt und wild bellend zum Gartentor rast oder Nachbars Katze hinterher jagt. Noch vor ein paar Wochen hätte ich mich verbogen und mir den Hals verrenkt, um zu erkennen was sie da macht – selbstredend ohne den geringsten Erfolg. Mittlerweile habe ich jedoch begriffen, dass ich, selbst wenn Judy die Katze auf meiner Terrasse direkt vor meinen Augen zerfleischen würde, nichts dagegen tun könnte. :o( Ich könnte es weder verhindern noch dazwischen gehen. Deshalb habe ich es mir in den unterschiedlichsten Lebensbereichen abgewöhnt, mich von Dingen, die ich nicht (mehr) beeinflussen kann, verrückt machen zu lassen, mich intensiv darum zu kümmern oder dafür zu interessieren. Gewöhnung ist wirklich eine tolle Sache, aber ich habe auch immer Angst, mir zu viel abzugewöhnen bzw. mich an zu viele Dinge zu gewöhnen, so dass mir irgendwann alles egal ist und ich mich in meiner eigenen Gleichgültigkeit verliere. Vielleicht ist diese ganze Gewöhnung einer der Gründe, warum mich hin und wieder das Gefühl beschleicht, gar nicht mehr so sehr an meinem Leben zu hängen oder – positiv ausgedrückt – es leichter loslassen zu können. Auf der einen Seite schnürt mir dieses Gefühl die Kehle zu und macht mir Angst, auf der anderen Seite ist es wie eine Befreiung und beruhigt mich ungemein. Es ist Schmerz und Wohltat zugleich. Niemand möchte gerne sterben, aber wenn man erstmal verstanden und verinnerlicht hat, dass der Tod unzertrennlich zum Leben dazugehört, erleichtert es das Leben. :o) „Jedes Leben verläuft tödlich.“ So kommentierte vor einigen Wochen ein Leser einen Artikel eines Online-Dienstes über meine Auszeichnung mit dem Grimme Online Award. In dem Artikel wurde darauf hingewiesen, dass ich auf meiner Website als Betroffene über mein Leben mit der Krankheit ALS berichte, „die tödlich verläuft“, woraufhin sich dieser Schlaumeier zu dem oben genannten Kommentar veranlasst fühlte. Spontan habe ich mich über den Satz geärgert, aber nachdem ich darüber nachgedacht hatte, kam ich zu der ernüchternden Einsicht: Der Schlaumeier hat Recht! :o) Das Leben endet mit dem Tod – bei dem einen früher, bei dem anderen später, bei vielen abrupt, bei einigen langsam, qualvoll, einsam. Das liegt nicht in unserer Hand. Wer will beurteilen was “besser“ ist? Wer vermag zu sagen wie die „Alternative“ ausgesehen hätte? Wer weiß denn schon, ob ich heute noch leben würde, wenn ich nicht an ALS erkrankt wäre? Je bewusster ich mir meinen eigenen Tod, meine Sterblichkeit, meine Endlichkeit vor Augen führe, desto mehr kann ich mein Leben genießen, es schätzen und auskosten – aber eben auch leichter loslassen. Vielleicht geht es tatsächlich um gelebte Tage und nicht um Tage, die man lebt.

Während die Auseinandersetzung mit meinem Tod für mich fast schon alltäglich ist, haben meine Familie, Freunde, Therapeuten und Pflegekräfte Schwierigkeiten, sich an diese unausweichliche Tatsache zu gewöhnen. Allein die Vorstellung, dass ich mir im letzten Jahr einen Baum im FriedWald gekauft habe, unter dem ich beigesetzt werden möchte, war für einige schwer zu ertragen. Umso überraschter war ich, als ich erfuhr, dass meine beiden Freundinnen Kerstin und Kerstin ein Picknick an meinem Baum organisiert haben – genauso wie ich es mir gewünscht hatte. :o) Am ersten Sonntag im Juli war es soweit. Wir trafen uns am Nachmittag und fuhren mit fünf Autos Richtung Elm. Neben meinen Eltern, Judy, Nina und Mirko waren auch meine „Quasitante“ Karin und mein „Quasionkel“ Gerd dabei, Kerstin und Olli mit Moritz sowie Kerstin und Jürgen mit Finn und Laurie. Außerdem begleiteten uns auch meine frühere Mitschülerin Dorthe, mein „alter“ Freund Philipp sowie meine Pflegekräfte Daniela mit ihrem Freund Harry und Melanie mit ihrer Freundin Nicole. Entgegen der Erwartung oder Befürchtung, es könnte vielleicht ein beklemmendes Gefühl oder sentimentaler Moment sein, an diesem so besonderen Ort zu stehen, wurde es ein ziemlich lockerer und lustiger Ausflug. Kerstin und Kerstin hatten Decken, Tische, Hocker, Geschirr, Kaffee und Kuchen dabei und wir breiteten uns auf der kleinen Lichtung rund um meinen Baum aus. Ich saß in meinem Rollstuhl und beobachtete das bunte Treiben um mich herum. Alle mampften Kuchen, tranken Kaffee, quatschten und lachten. Finn und Laurie suchten eimerweise Steine, Moritz sammelte eifrig Schnecken und Judy betätigte sich als Laubfänger – alle sahen glücklich aus. :o) Es war wirklich ein schöner Nachmittag. Ich habe einige Bilder dieses und auch des letztjährigen Ausflugs in den FriedWald eingestellt. Allerdings offenbarte dieser Tag ein großes Problem, denn mein neuer Rollstuhl kam zum ersten Mal im Praxistest zum Einsatz und fiel glatt durch – 6! Setzen! Bereits die Beratung und Versorgung durch das vertraglich an meine Krankenkasse gebundene Sanitätshaus grenzte an eine Katastrophe. Alles begann mit der Feststellung, dass wir ein Ungeheuer von Pflegerollstuhl, wie ich ihn im letzten Sommer zur Probe hatte, schon wegen seines Gewichts, seiner Sperrigkeit und Größe nicht händeln können. Also stand fest, dass ich einen Leichtgewichtsrollstuhl brauchte, der bezüglich Ausstattung, Sitzposition, Kopfstütze und Polsterung ganz individuell auf meine Bedürfnisse abgestimmt und angepasst wird. Eigentlich logisch – dachte ich! :o) Aber schon die Beratung des Sanitätshaus-Mitarbeiters verdiente diese Bezeichnung nicht. Er kannte sich nicht richtig aus, sagte nur, dass unsere Vorstellungen nicht umzusetzen wären bzw. dass es so etwas überhaupt nicht gäbe. Erst nachdem meine Ergotherapeutin Katja ihn vom Gegenteil überzeugt und ihm praktisch diktiert hatte, was ich benötigen könnte, gab er nach. Wir waren alle noch etwas ungläubig angesichts dieser Inkompetenz, aber als er sich bei der Verabschiedung (!!) bei meiner Ma nach der Art meiner Erkrankung erkundigte, fiel uns die Kinnlade komplett herunter. Hä? Wie wollte er mich – sofern er es gekonnt hätte – adäquat über sämtliche Möglichkeiten informieren, wenn er noch nicht einmal wusste, welches Handicap ich habe und was für Bewegungseinschränkungen, Probleme und Anforderungen sich daraus ergeben? :o( Mir fehlen noch immer die Worte!

Dementsprechend skeptisch sah ich dem Termin zur Rollianpassung entgegen…und war positiv überrascht. Der Rollstuhl sah nicht nur gut aus (wichtig!), ich konnte trotz der gegen meinen wehementen Protest angebrachten Armlehnen auch gut darin sitzen. Sowohl das Gel-Sitzkissen als auch der Jay-Rücken waren bequem und passten sich meinem Körper an. Was jedoch überhaupt nicht passte war die Kopfstütze – und damit stand und fiel natürlich die gesamte Tauglichkeit des Rollstuhls. :o( In Ermangelung besseren Wissens hatten wir uns auf die Erfahrungswerte anderer Betroffener gestürzt und eine Kopfstütze probiert, mit der diese sehr zufrieden waren. Sie hatte eine kleine Platte zur Stützung des Hinterkopfs, eine schmale, Halbmondförmige Stütze im Nackenbereich und zwei rechts und links angebrachte Stützen zur Fixierung des Kopfes an der Stirn. Davon abgesehen, dass sämtliche Flächen viel zu klein und zu hart waren, empfand ich die Nackenstütze genauso angenehm wie einen Karnickelgriff bzw. den Oli-Kahn-Gedächtnisgriff und die Fühlerartigen Vorderkopfstützen erinnerten mich unweigerlich an Biene Maja und Willi. Nachdem Katja und der Mitarbeiter des Sanitätshauses meinen Kopf zur Probe komplett fixiert hatten, sie mich beide gespannt ansahen und fragten: „Und, wie ist es?“, musste ich lachen und antwortete: „Wie in der Irrenanstalt!“ :o) Im Ernst, diese Fixierung war nichts für mich – nicht nur, dass ich mich damit wirklich wie in der Klapse fühlte, ich konnte in dieser Position ganz schlecht atmen, kaum schlucken und nur mit Mühe sprechen. Schuld daran war allerdings weniger die Kopfstütze selbst als vielmehr meine Gewöhnung an eine grundlegend andere Form der Unterstützung meiner Kopfposition. Da ich nahezu die gesamte Zeit meiner Erkrankung auf dem Sofa und nicht im Rollstuhl verbracht habe, hat sich auch meine Nacken-, Hals- und Schultermuskelkater daran gewöhnt, durch ein weiches Kissen gestürzt zu werden. Dadurch haben sich meine Muskeln in diesem Bereich entsprechend verhärtet, so dass ich meinen Kopf nur noch in ganz bestimmten Positionen, Winkeln oder Neigungen halten kann ohne eines der oben genannten Probleme zu bekommen. Weil aber der Ausflug in den FriedWald vor der Tür stand und der Mitarbeiter erklärte, er könne die Kopfstütze weder zurücknehmen noch anpassen, behielt ich diese erstmal und verfuhr nach dem Motto: Was nicht passt wird passend gemacht! :o) Wir steckten einfach ein Kissen zwischen die Kopfstütze und meinen Kopf und schon war mein Rolli (fast) so bequem wie mein Sofa. Allerdings offenbarten die holprigen Waldwege im FriedWald, dass die Kopfstütze nicht das einzige Manko des Rollstuhls war. Es war zwar möglich die Rückenlehne rückwärtig in eine Liegeposition zu bringen, jedoch war eine zusätzliche Kantelung bzw. Neigung der Sitzfläche nicht gegeben. Dadurch rutschte ich mit meinem Po trotz Beckengurt permanent nach vorn und drohte aus dem Rollstuhl zu fallen – flutsch und weg! Verschärft wurde das Problem durch die Fußstützen, die mir in dieser Form und in diesem Winkel überhaupt keinen Halt boten. Es gibt viel zu tun – packen wir’s an!

Ich befürchte jedoch, dass es so einen Rollstuhl, wie ich ihn bräuchte, nicht gibt bzw. er durch seine Individualität unbezahlbar wäre. Oder – und das wäre noch schlimmer – wenn wir den Rollstuhl irgendwann zusammengeklöppelt haben, passt er nicht mehr richtig, weil sich inzwischen wieder neue Anforderungen durch den fortgeschrittenen Krankheitsverlauf ergeben haben. Im Vergleich zu den ersten acht Jahren meiner Erkrankung ist die ALS im vergangenen Jahr deutlich schneller und auch viel umfangreicher vorangeschritten. Hatte ich es sonst immer nur mit einer oder zwei „Baustellen“ zu tun, kämpfe ich nun gleich an mehreren Körperbereichen gegen Verfall, Abriss und Stilllegung an. :o( Meine Beine und Arme heben weiter an Kraft verloren, aber auch meine Nackenmuskulatur hat erneut stark nachgelassen. Dadurch ist es noch schwieriger geworden, meinen Kopf anzuheben, zu senken oder oben zu halten. Als ich noch gesund war, saß mein Kopf bildlich gesprochen auf einem Brückenpfeiler. Im Laufe der ALS-Erkrankung wurde aus dem Brückenpfeiler langsam eine Litferssäule, ein Laternenmast und schließlich ein Zaunpfahl. Im letzten Jahr schrumpfte die Auflagefläche meines Kopfes jedoch auf die Größe eines Bleistifts zusammen und dementsprechend leicht war er aus der Balance zu bringen. Insbesondere beim Essen und beim Zähneputzen bereitete mir diese Instabilität zusätzliche Probleme. Sofern ich die Auflagefläche nur einen einzigen Millimeter überschreite, rauscht mein Kopf ungebremst nach vorne oder hinten. Ich frage mich, wie das Schlucken oder Zähneputzen funktionieren soll, wenn ich meinen Kopf gar nicht mehr selbstständig halten kann? Da ich in letzter Zeit zudem einen zunehmenden Verlust meiner Stabilität im Oberkörper bemerkt habe, mache ich mir auch Gedanken, wie ich ohne Arm-, Kopf- und Oberkörperkontrolle so selbstverständliche Dinge wie einen Toilettengang, duschen oder Haare waschen und trocknen bewerkstelligen soll? Darüber hinaus beschäftigt mich natürlich die Frage, ob mich eine Pflegekraft allein in solch einem unkontrollierten Zustand überhaupt händeln kann – vermutlich nur, wenn sie acht Arme hätte! :o) Spielt sich das alles dann im Liegen ab, oder wie? Ich finde die Unwissenheit genauso beängstigend wie das Wissen um die Gestaltung meines zukünftigen Lebens. Entsprechend unentschlossen bin ich, ob ich mich wirklich bereits jetzt mit diesen Problemen auseinandersetzen soll und will oder erst dann, wenn es tatsächlich soweit ist. Die zunehmende Atrophie bereitet mir auch so schon genug Schwierigkeiten, denn das Fehlen der Schutzmuskulatur macht die knöchernen Strukturen äußerst instabil und hypermobil. Meine Gelenke, Sehnen und Bänder lassen Bewegungen zu, die eigentlich gar nicht möglich sind bzw. nicht möglich sein sollten. So „kann“ ich auf einem Bein stehen, obwohl das Standbein komplett umgeknickt ist. Ich „kann“ meine Knie und Ellenbogen derart überstrecken, dass das Gelenk praktisch in die falsche Richtung gebeugt wird. Ähnlich mobil sind meine Schultern, Handgelenke und Finger. Die Finger sind biegsam wie Gummi und machen diesem Namen auch alle Ehre. Sie lassen sich mehr oder weniger widerstandslos in sämtliche Richtungen verbiegen. Allerdings ist es ein für mich schmerzhafter Trugschluss, anzunehmen, dass mir all diese Verrenkungen – nur weil sie möglich sind – nicht wehtun würden. Schließlich ist die Hypermobilität bloß deshalb gegeben, weil mir genau die Muskulatur fehlt, die normalerweise verhindert, dass solche Verbiegungen überhaupt entstehen können. :o( Blöde ALS…

Und es gab noch etwas, dass ich ziemlich blöd fand – das Wetter! Praktisch mit dem Tag unseres Ausflugs in den FriedWald endete eine zehnwöchige Schönwetterperiode, früher auch mal Sommer genannt. Es folgten drei Wochen unentschlossenen Aprilwetters, die ich aber dank Tour de France einigermaßen unbeschadet überstand. Außerdem hatte ich viel zu erledigen: Zum einen musste ich mir organisatorische Gedanken machen, wie der für die Renovierung meiner vier Wände bestellte Maler am besten vorgehen sollte, ohne dass mein Tagesablauf völlig durcheinander geriet. Zum anderen hatte ich eine Interview-Anfrage von MyHandicap erhalten. Die gemeinnützige Organisation bietet Menschen mit Behinderung und deren Umfeld sowohl umfangreiche Informationen als auch Beratung und Motivation für ein Leben mit einem Handicap. Die Beantwortung der Fragen gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet. Viele Fragen ließen keine kurzen oder unüberlegten Antworten zu, sondern benötigten viel Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Zudem tauchte ein altbekanntes Problem auf, auf das ich sehr gerne verzichtet hätte. In unregelmäßiger Regelmäßigkeit habe ich immer mal wieder mit plötzlich auftretender Unschärfe meiner Augen zu kämpfen. :o( Von einem Tag auf den anderen bin ich dann häufig für mehrere Tage in einer verschwommenen Welt gefangen. Ich kann nichts lesen, nicht schreiben, noch nicht mal richtig fernsehen – toll! Aber so hatte ich wenigstens mehr als genug Zeit, um über meine Antworten nachzudenken und MyHandicap ein ausführliches Interview zu geben – zum Interview mit MyHandicap. Der Juli besann sich gegen Ende doch noch darauf ein Sommermonat zu sein und ich konnte endlich wieder raus in den Garten. Auch Judy freute sich über meine Gesellschaft und hüpfte dreibeinig um mich herum. Sie hatte sich wenige Tage zuvor einen langen, tiefen Schnitt an der rechten Vorderpfote zugezogen, der vom Tierarzt getakkert werden musste. Der Verband war wohl zunächst etwas zu eng, so dass Judy gar nicht auftreten wollte bzw. konnte und lieber auf drei Beinen hüpfte. Nach einer Woche bekam sie aber einen stylischen Lederschuh, mit dem sie glücklich durch die Gegend tapste – süß! :o) Judy ist mein Herz und es tut eben dort besonders weh, wenn sie mich mal wieder nicht beachtet – nicht, weil sie mich nicht mag, sondern weil ich für sie einfach uninteressant bin und sie weiß, dass sie von mir nichts bekommen kann außer meine Anwesenheit. Ich kann ihr kein Leckerli geben, kann nicht mit ihr spielen oder sie streicheln, ich kann nur da sein. Umso mehr berührt es mich zu sehen, dass ihr meine ständige Nähe auch etwas bedeutet. Wenn ich meine Wohnung mal im Rollstuhl verlasse, springt sie bellend um mich herum, will schließlich ausschließlich neben dem Rolli laufen und versucht panisch zu mir auf den Beifahrersitz zu gelangen sobald ich dort sitze. Wenn ich dann wieder in meine Wohnung zurück komme, liegt sie oftmals direkt vor meinem Sofa genau an der Stelle, wo ich normalerweise sitze – als ob sie mich wirklich vermissen würde. Offenbar ist zumindest meine Anwesenheit unersetzbar. :o)

Aber genügt es mir, mich auch sonst nur noch durch meine Anwesenheit auszuzeichnen? Definitiv nein! Dennoch muss ich mich immer öfter damit begnügen, „nur“ dabei sein zu können, mehr am Rand als mittendrin, mehr in der Beobachterrolle und nicht als Aktivist. Zuhören statt reden, zusehen statt essen, rumsitzen statt rumlaufen – passiv statt aktiv sein. So war es auch, als ich mich Ende Juli entschied, eine Einladung von Nina und Mirko zum Kaffeetrinken auf ihrer Terrasse anzunehmen und seit langem mal wieder bei einem Familienevent dabei zu sein. Meine Eltern, Mirkos Mama, Nina und Mirko saßen am Tisch und ich saß bzw. lag – weil es für mich so am bequemsten ist – auf einer Sonnenliege in unmittelbarer Nähe des Tisches. Und obwohl ich so nah wie möglich dabei war, war ich doch „nur“ dabei – anwesend eben! Es fällt mir auch nach über acht Jahren ALS immer noch schwer, mich damit anzufreunden, an einem solchen Nachmittag lediglich – und ich habe mitgezählt – 31 Worte zu sprechen. Manchmal habe ich das Gefühl, mich in kleinen Schritten aus dem Leben zu schleichen – zunächst aus dem beruflichen Leben, dann aus dem gesellschaftlichen Leben, aus dem Leben von Bekannten und Freunden und ganz allmählich auch aus dem Leben meiner Familie. Ich werde immer nutzloser, unwichtiger, unscheinbarer, immer unsichtbarer und irgendwann macht es „plopp“, ich bin weg und keiner merkt es. Natürlich ist das Quatsch und trotzdem fühlt es sich hin und wieder so an. Und es gibt tatsächlich Momente, da habe ich dermaßen die Schnauze voll von diesem beschränkten, erbärmlich anstrengenden Leben mit der ALS, da möchte ich mich auflösen und auf Nimmer Wiedersehen verschwinden. :o( In diesen Momenten fühle ich mich schwach, kraftlos, mutlos, verzweifelt, einsam, keine Spur von Stärke, Lebensmut, Wille und Humor. Ich möchte einfach nur weg sein, das alles hinter mir haben. Es wäre ja eine Art Erlösung für alle. Sämtliche Ängste, Sorgen und Probleme wären auf einen Schlag weg. Die große Hilflosigkeit, Verzweiflung, die körperlichen und seelischen Belastungen hätten dann ein Ende. Der ganze Druck, der häufige Verzicht, alle persönlichen Einschränkungen und Opfer würden entfallen. Niemand müsste mehr leiden. Aber ist „einfach weg“ nicht der zu einfache Weg? Früher hätte ich an so einem Punkt vermutlich versucht davonzulaufen, wäre an und in meiner Situation verzweifelt und hätte auf Rettung durch andere Menschen oder Ereignisse gehofft. Heute ist mir dieses Muster der „alten“ Sandra zuwider und ich ärgere mich jedes Mal maßlos über mich selbst, wenn sich diese Gedanken in meinen Kopf schleichen. Ich ziehe viel Motivation aus dem Vorsatz, nicht mehr so sein zu wollen wie ich damals war. Das ist alles andere als leicht, denn wenn man sich schwach und leer fühlt, ist es furchtbar bequem, wieder in seine alten Verhaltensweisen zu verfallen – aber ich und die „neue“ Sandra, wir wehren uns standhaft.

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