Meine Geschichte 2007/2

2007/2

Der März war ein ziemlich anstrengender Monat. Seit vielen Monaten bekam ich im März gleich 4-mal einen Heulanfall als Zeichen einer seelischen Überlastung und zu viel Stress. Meine leise Hoffnung, dass mir die Hilfe eines Pflegedienstes tatsächlich erspart bliebe, schwand, als meine Mutter über eine Bekannte Kontakt zu einer Mitarbeiterin eines Intensiv-Pflegedienstes herstellte. Eines Morgens kam diese zur Begutachtung der Pflege und des Pflegebedarfs vorbei, was bei mir sofort Stress und damit Heulanfall Numero uno auslöste. Wenn ich, besser: die ALS, Stress empfindet, fängt sie nämlich oft an zu weinen, die Memme! Und was ist schlimmer als zu weinen, obwohl man gar nicht weinen will? Das ist wirklich ein Grund zum heulen – und so heule ich, weil ich nicht heulen will. Oje, das klingt total bekloppt. :o) Eine Woche später, kam die Pflegedienst-Mitarbeiterin erneut, um mit meinen Eltern und mir zu besprechen, wie ihr Pflegedienst meine Pflege unterstützen könnte. Das war wieder zuviel Stress für mich – Numero due! :o( Voraussetzung dafür, dass der Pflegedienst überhaupt tätig werden kann, ist die Beantragung einer so genannten Behandlungspflege. Diese wiederum setzt voraus, dass ich eine Behandlung benötige, die eine ungelernte Kraft nicht ausführen kann, also z.B. eine Beatmung oder die Ernährung über eine PEG. Da ich bisher aber – toi toi toi – weder das eine noch das andere brauche und ich diese Maßnahmen im Bedarfsfall im Rahmen der Patientenverfügung ausschließen möchte, müssten andere, alternative Behandlungen in Erwägung gezogen werden. Ich habe jedoch generell Angst davor, der Krankheit durch die Anschaffung medizinischer Geräte zu viel Platz in meinem Leben einzuräumen. Bisher habe ich versucht, die ALS nicht einen Millimeter mehr als unbedingt nötig in mein Leben zu lassen. Meine größte Sorge ist, dass ich die Geräte – wenn sie erst mal da sind – wirklich bald benötigen könnte. :o( Außerdem müssten natürlich zusätzliche Pflegekräfte eingearbeitet werden, die mich täglich mehrere Stunden betreuen sollen. Ich habe aber leider nicht mehr die körperliche und seelische Stärke, um neue Leute einzuarbeiten und mich mühsam mit ihnen zu verständigen. Die Einarbeitung von Sarah und Anette hatte mich schon viel Kraft gekostet, das schaffe ich nicht noch einmal. Also werde ich wohl oder übel passiv bewegt werden müssen. Ich habe keine Ahnung wie das gehen soll, ob eine Pflegekraft allein das überhaupt schafft, ob meine Spastik, meine emotionale Labilität den ganzen Stress mitmacht und wie viel Muskelkraft ich durch die zunehmende Passivität verlieren werde. Ich bin entsprechend beunruhigt! Hoffentlich überstehe ich diese ganzen Veränderungen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Veränderungen bedeuten Stress und Stress bedeutet immer Verschlechterung – und so viel ist ja nicht mehr übrig, was sich verschlechtern kann. :o(

Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, ob die anstehenden Veränderungen nicht auch die Chance wären, einen kompletten “Neuanfang“ zu wagen. Aber so richtig ins Grübeln hat mich erst Franz Hahn gebracht, mit seiner Entscheidung in ein Pflegeheim zu gehen. Es ist ein großer, einschneidender Schritt und ich weiß, wie schwer ihm sein Entschluss gefallen ist – umso mehr bewundere ich seinen Mut und seine psychische Stärke. Trotz einiger Anlaufschwierigkeiten und einer anfänglichen psychischen Krise klingt Franz aber nicht unglücklich und deprimiert. Vielleicht kann ein Pflegeheim wirklich eine Alternative sein, um alle Beteiligten zufrieden zu stellen und weder mich als Betroffene noch meine Familie zu sehr zu belasten. Andererseits, wenn man so lange und so tapfer gekämpft hat, ist ein solcher Schritt für den Betroffenen fast wie eine Bestrafung. Ich habe das Gefühl, dass die ALS so drei Mal zuschlagen kann – erst drängt sie uns aus unserem „gesunden“ Leben, anschließend auch aus dem mühsam erkämpften „kranken“ Leben und dann nimmt sie es uns ganz weg. Wir sterben sozusagen drei Mal. :o( Außerdem beschäftigt mich aber auch Franz Argument, das Haus seiner Familie nicht hochgradig pflegebedürftig oder gar tot verlassen zu wollen. In der Erinnerung und im Herzen meiner Eltern werden die Räume, in denen ich jetzt lebe, ohnehin immer mit mir und der ALS verbunden bleiben – aber noch geht es mir relativ gut. Wie belastend wird diese Erinnerung sein, wenn ich tatsächlich in meinem Elternhaus sterben sollte? Kann und will ich das überhaupt zulassen? Was ist richtig und was falsch? Das Leben ist wirklich nicht leicht und solche Überlegungen machen es noch schwerer, denn meine Entscheidungen beeinflussen immer auch das Leben der Menschen, die mir nahe stehen. Entscheide ich mich, der ALS meine Stirn zu bieten und zu kämpfen, jede medizinisch mögliche Therapie sowie lebensverlängernde Maßnahme in Anspruch zu nehmen, verlängere ich meine Überlebenszeit, aber – neben all der schönen gemeinsamen Zeit – eben auch die körperliche und seelische Belastung meines Umfelds. Entscheide ich hingegen nicht zu kämpfen, mich der ALS und meinem Schicksal ohne jede Gegenwehr hinzugeben, verkürze ich unnötigerweise meine Überlebenszeit und erhöhe dadurch ebenfalls die Belastung für mein Umfeld. Deshalb habe ich mich für den goldenen, hoffentlich richtigen, Mittelweg entschieden: Ich nehme keine Abkürzung, aber auch keinen Umweg. :o) Das bedeutet, ich kämpfe so lange mein Körper mitkämpfen kann. Ich nehme meine Medikamente, esse und trinke solange ich kauen bzw. schlucken kann und ich atme solange ich selbstständig Luft holen kann. Ich akzeptiere alle Hilfsmittel, die mein Leben ausschließlich erleichtern, aber ich möchte keine Lebensverlängernden Maßnahmen – also keine Beatmung und auch keine Magensonde. Ich kann mir zum jetzigen Zeitpunkt einfach nicht vorstellen, dass andere über den Inhalt meines Magens oder die Sauerstoffsättigung meines Blutes bestimmen können. Wenigstens hier möchte ich meine Selbstbestimmung behalten. Nicht mehr und nicht weniger!

Wenn meine Patientenverfügung konkretere Formen annimmt, werde ich diese ganzen Themen auch mit meinem Neurologen Dr. Otto besprechen müssen. Bei seinem erneuten Hausbesuch im März hat er sich wieder viel Zeit genommen und wir haben lange über meine Homepage, die diversen Fernsehberichte über ALS, meinen Drehtag und natürlich auch über meinen Krankheitsverlauf und die Probleme der letzten Wochen und Monate gesprochen. Aber bei bestimmten Punkten bin ich mir immer ziemlich unsicher, ob ich sie im Beisein meiner Eltern ansprechen soll…kann…will. Einige Dinge möchte und muss ich einfach erstmal für mich selbst klären. Also werde ich Dr. Otto demnächst mal um ein Gespräch unter vier bzw. sechs Augen bitten müssen. Ansonsten hatte der März noch mehr Herausforderungen zu bieten. Zunächst feierte meine Oma ihren 87. Geburtstag und kam nachmittags gemeinsam mit meiner Tante Ulli zum Kaffeetrinken zu meinen Eltern. Später kamen sie auch zu mir runter, wir quatschten ein bisschen und kamen irgendwie auf meinen Lieblingsfilm – "Deep Blue" von Alastair Fothergill, George Fenton, Andy Byatt, und Martha Holmes. Die beeindruckendste Naturdokumentation die ich je gesehen habe. Neben den atemberaubenden und in einem grandiosen Rhythmus geschnittenen Bildern, ist die von den Berliner Philharmonikern eingespielte Filmmusik einfach wunderbar. "Deep Blue" ist somit nicht nur absolut sehens- sondern auch hörenswert. Ich hatte gehofft, dass sich meine Oma trotz ihrer zunehmenden Altersdemenz und Lustlosigkeit zumindest für die Dauer des Films für die Pflanzen, Tiere und Farben begeistern könnte. Und tatsächlich schien sie von den tollen Aufnahmen genauso fasziniert zu sein wie wir. Happy Birthday! :o) Die nächste Herausforderung war allerdings deutlich größer – “meine“ Friseurinnen Tanja und Rosi kamen zu mir, um meine Frisur wieder auf Vordermann zu bringen. Ihre Hausbesuche sind natürlich schon eine große Erleichterung für mich, aber es fällt mir von Mal zu Mal schwerer, meinen Kopf die vollen zwei Stunden oben zu halten. :o( Allerdings zahlte ich die richtige Quittung für meine neu gewonnene Schönheit wie immer erst in den Tagen danach – ich hatte Nackenschmerzen, Verspannungen, Zittern und extreme Schwäche der übermäßig beanspruchten Muskulatur. Falls jemand eine Möglichkeit kennt, meinen Kopf zu stützen und gleichzeitig genug Freiraum für Strähnchen, Folien und Schere zu lassen, bitte melde dich! :o) Ende März hatten wir super schönes Wetter und ich konnte mehrere Tage draußen in der Sonne genießen. Allerdings musste ich mir diesen Genuss erst erarbeiten. Tina hatte mich zuletzt im Oktober nach draußen gebracht, dementsprechend viel musste ich erklären und Anweisungen geben. Mitten in meinen Erklärungsversuchen erschien Carola, eine Freundin, freudestrahlend am Gartenzaun. Ab diesem Moment hatte ich nicht mehr die nötige Ruhe, ich geriet in Stress und wollte mich so schnell wie möglich auf meine Sonnenliege setzen. FEHLER! Eigentlich sollte ich das Wort „schnell“ schon aus meinem Denken entfernt haben, denn immer wenn ich etwas schnell machen will oder soll passiert dasselbe – Heulanfall Nummer drei im Monat März! Glückwunsch! :o)

Das wirklich Schlimme an diesen Situationen ist, dass sich die Beteiligten häufig große Sorgen um mich machen. Seit ich ALS habe, gehört mir mein Körper jedoch nicht mehr alleine und manchmal verwechseln mich die anderen mit meiner Mitbewohnerin. Die ALS und ich leben sozusagen in einer Zwangs-Wohngemeinschaft und sind uns hin und wieder nicht ganz einig, wem in dieser WG was gehört. :o) Ich glaube, die anderen denken, ich weine, weil sie irgendetwas falsch gemacht haben. Meistens weine zunächst aber nicht ich sondern nur die Heulsuse ALS. Ich, also mein inneres Ich, sitze gelangweilt in einer Ecke meines Körpers und warte bis sich mein äußeres, durch die ALS gesteuertes Ich wieder einkriegt. Das einzige, was wir – also der Jammerlappen und ich – in diesem Moment brauchen, sind eine Wagenladung Taschentücher, etwas Verständnis, Zeit und Ruhe. Wenn ich dann aber sehe, wie verunsichert, hilflos, besorgt und manchmal auch wütend meine Leute sind und sie mich mit Fragen bombadieren, um heraus zu finden, was los ist und wie sie mir helfen können, bin ich total überfordert. Ich möchte ihnen sagen, dass nichts Schlimmes passiert ist, aber ich kann nicht sprechen. Mit ALS kann man nur eine Sache auf einmal: Entweder weinen oder sprechen. :o( Also versuche ich innerlich die ALS zu beruhigen und äußerlich zu signalisieren, dass ich einfach noch ein paar Minuten Ruhe brauche. Stress lass nach! :o) Wenn das nicht klappt, ich immer weiter mit Fragen gelöchert oder mit “störenden“ Aktionen überschüttet werde und mein Körper scheinbar grundlos weiter weint, dann bin auch ich irgendwann völlig ratlos und verzweifelt. Diese Situation ist nun wirklich zum heulen und schließlich fange ich an zu weinen, weil ich nicht aufhören kann zu weinen. :o( Trotz Sintflutartiger Wassermassen, kann eine solche Weinattacke am besten rational und nicht emotional beendet werden – von beiden Seiten aus! Ich versuche mich zum Beispiel durch mechanisches Handeln von meinen eigenen Gedanken abzulenken. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, zähle die Muttermale auf meinen Armen oder wiederhole in Gedanken immer wieder die Namen der Leute, denen ich noch eine Mail schreiben will. Auch von den Menschen um mich herum brauche ich in diesem Moment eher Hilfe und weniger Trost. Ich benötige vor allem Hilfe beim Abwischen der herauslaufenden Spucke, beim Naseputzen und beim Trocknen meiner Tränen – nicht mal heulen kann ich mehr allein. :o( Umarmungen und andere tröstende Gesten verschlimmern dagegen mein Weinen zusätzlich, weil ich meine Heulerei ohnehin schon schlimm genug finde. Auch Wut, Vorhaltungen oder Appelle an meine Vernunft helfen nicht wirklich. Ich weiß ja selbst, dass ich mich wie ein Kleinkind aufführe. Es ist, als würden durch jedes weitere Wort sämtliche innere Dämme brechen und meine restliche Stärke würde einfach davon gespült. In bestimmten Momenten sind mir die ganzen Emotionen einfach zu viel.

Ähnliche Gefühle löste das Rohmaterial des im Dezember gedrehten Fernsehbeitrags bei mir aus. Nachdem ich die DVD erhalten hatte, lag sie erstmal einige Wochen ungeöffnet herum, ehe ich den Mut fand, sie anzusehen. Nach 30 Sekunden konnte ich es nicht mehr ertragen mich zu sehen und zu hören! :o( Oh Gott, das war doch nicht ich?!? Was ich sah, war wirklich ein Schock für mich. Ich sah zwar gepflegt aus, aber auch unheimlich dünn und zerbrechlich, mein Gesicht war hager und seltsam verzerrt, der Rücken gebeugt und knochig und der Kopf hing genauso schlaff herunter wie die Arme neben meinem Körper baumelten. Und was waren das für furchtbare Laute? War das tatsächlich meine Stimme? Ich verstand kein Wort. :o( Wenn ich spreche, höre ich mich in mir selbst viel deutlicher – vermutlich weil ich ja genau weiß, was ich sage bzw. sagen will. Kein Wunder, dass mich niemand versteht! Niemals hätte ich erwartet, so…so…so behindert zu sein. Wie konnte ich erwarten, von anderen Menschen ganz normal behandelt zu werden, wenn ich mich verhalte, als wäre ich nicht nur körperlich sondern auch geistig behindert! Kerstin, Kerstin und Katja teilten meine Ansicht jedoch nicht – aber es ist ja bekanntlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Während meiner Freundin Kerstin lediglich eine kleine Zahnlücke in meinen Zähnen auffiel, haderten meine Pflegekraft Kerstin und meine Ergotherapeutin Katja ausschließlich mit ihrem eigenen Körper: „Oh Mann, sehe ich fett aus!“, „Vielleicht hätte ich mir doch noch die Haare waschen sollen“, „Guck dir mal mein Doppelkinn an!“, „Und warum gucke ich denn so ernst, wir lachen doch immer viel?“ Mein Aussehen und Verhalten fanden alle Drei dagegen überhaupt nicht schlimm! Naja! :o) Ich brauchte jedenfalls etliche Tage, um den Eindruck meines unerwartet schlechten körperlichen Zustands zu verdauen. Seit den Aufnahmen ist mein Körper durch den Stress der vergangenen Wochen noch etwas schwächer geworden. Neben meinem rechten Arm ist nun auch der linke sehr kraftlos und ich kann die Unterarme nur mit viel Mühe etwas anheben – aber bei 90° ist Ende Gelände. Meine Oberarme kann ich überhaupt nicht mehr heben oder seitlich abspreizen und infolge dessen liegen sie immer sehr nah an den Oberkörper gepresst, was ich ziemlich unangenehm finde. Auch meine Beine sind deutlich kraftloser, sie beginnen stehend früher zu zittern und ich bekomme schneller Muskelkater. Außerdem sind meine Fußgelenke ziemlich instabil geworden und ich knicke häufig um. Manchmal stehe ich mit beiden Füßen nur noch auf der Außenkante – aua! :o( Wenn ich meine Beine übereinander geschlagen habe, um auf dem Sofa sitzend am Laptop zu arbeiten, schläft mir plötzlich entweder das obere Bein ein oder ich bekomme starke Schmerzen in der Kniekehle. Zudem scheint auch mein Kopf wieder etwas schwerer geworden zu sein und ich habe große Probleme ihn über längere Zeit oben zu halten. Dadurch leidet nicht nur meine Sprache, auch das Kauen, Schlucken und die Atmung wird erschwert. Darüber hinaus hat meine Rumpfmuskulatur in letzter Zeit stark nachgelassen und ich habe zunehmende Schwierigkeiten, meinen Oberkörper auf dem Rollator sitzend aufrecht zu halten. Insgesamt gesehen, im Vergleich zu Krankheitsverläufen anderer Betroffener, geht es mir aber immer noch wirklich gut und ich will mich nicht beklagen.

Genauso anstrengend wie der Monat begonnen hatte, endete er auch. Meine Cousine Annika feierte am letzten März-Wochenende in der Nähe von Frankfurt ihre Konfirmation. Da die Reise und die Feier für mich zu kräftezehrend gewesen wären, waren sich auch meine Eltern unsicher, ob und für wie lange sie anreisen können. Meine Mutter hatte in der Vergangenheit schon oft geäußert, wie gerne sie mal wieder ihre dort lebende Mutter für einige Tage besuchen würde. Deshalb habe ich klammheimlich und als Überraschung für meine Eltern eine “24-Stunden-Pflege“ für das gesamte Wochenende von Freitagmorgen bis Montagabend organisiert. Kerstin versorgte mich morgens und abends, Anette kam am frühen und Tina am späten Nachmittag, meine Freundin Kerstin kümmerte sich um Judys Fitness und meine Ergotherapeutin Katja um mein leibliches Wohl – es ging zu wie in einem Taubenschlag. :o) In der ersten Nacht brachte mich Kerstin auch noch ins Bett und übernachtete hier. In den anderen beiden Nächten schlief – besser gesagt: wachte :o) –Katja auf dem Gäste-Schlafsofa und Anette sollte die “Bett-Zeremonie“ vollführen. Da sie das bisher noch nie gemacht hatte, hatten meine Mutter und ich ihr die Prozedur zwei Tage zuvor erklärt und gemeinsam den Ablauf geprobt. Außerdem hatte ich sämtliche Schritte schriftlich in einem Ablaufplan festgehalten – vorsichtshalber! Zunächst lief alles wunderbar. Während Katja eine kleine Runde mit Judy ging, brachte mich Anette zur Toilette und zog mir meine Schlafklamotten an. Und als sie sage: „Na, das läuft doch super!“ und ich dacht: „Naja, der schwierigere Teil kommt ja erst noch!“ war alles vorbei. Plötzlich war ich bzw. die ALS irgendwie im Stress und bekam in beiden Beinen eine Spastik die sich gewaschen hat. :o( Anette und Katja waren erstmal hilflos und es tat mir unendlich leid, ihnen nicht helfen zu können. Zu allem Überfluss fing ich auch noch an zu weinen – Nummer vier! – und ich glaube, wir waren alle drei froh, als ich endlich unter meiner Heizdecke im Bett lag. Es ist wirklich ein total bescheuertes Gefühl, bestimmte Verhaltensweisen nicht beeinflussen zu können – es passiert einfach und ich kann nichts dagegen tun. :o( Am folgenden Abend brachte mich sicherheitshalber Kerstin ins Bett. Wahrscheinlich hingen meine körperlichen Reaktionen sowohl von der Sicherheit und Routine der Pflegekraft, als auch von meinem Vertrauen in sie und in mich selbst ab, denn dieses Mal klappte die Prozedur wieder reibungslos. Vertrauen und Zutrauen sind jedoch weder erzwingbar noch käuflich – und wenn einer nicht bestechlich ist, dann ist es die ALS. Leider! :o( Obwohl ich mich natürlich sehr für meine Eltern gefreut hatte, war ich dennoch froh, als ihr Kurzurlaub beendet und mein Alltag zurückgekehrt war. Vermutlich ist es für die Psyche auch ein Unterschied, ob hauptsächlich “fremde“ Menschen für die Versorgung verantwortlich sind, die dafür bezahlt werden, oder ob ein Teil der Betreuung in das normale Familienleben integriert ist und somit relativ flexibel und fließend gestaltet werden kann. Mein persönlicher Albtraum wäre eine Art “Rund-um-die-Uhr-Überwachung“ durch externe Kräfte. Selbst wenn diese ganz unaufdringlich im Nebenzimmer säßen, würde ich mich trotzdem beobachtet und gehetzt fühlen. Auch wenn ich weiß, dass diese Hilfe mit Sicherheit auch für mich viel angenehmer, praktischer und sicherer wäre, finde ich die an sich luxuriöse Vorstellung, dass sich ständig jemand “Fremdes“ in meiner Nähe aufhält, der praktisch nur darauf wartet, mir helfen zu können, momentan unerträglich. Allerdings habe ich erkannt, dass ich mich auf Dauer nicht dagegen sträuben kann und deshalb werde ich versuchen, auch hier das Positive zu sehen: Nie wieder warten! :o)

Infolge der vielen schönen Tage im März war ich oft draußen und hatte kaum Gelegenheit, die durchweg positive Resonanz auf die Layout-Veränderung meiner Homepage zu lesen. :o) Das holte ich jedoch über die – wettermäßig – weniger schönen Osterfeiertage nach. Die zusätzlichen Menüpunkte “Aktuelles“, “Linkliste“, “ALS-Betroffene“, “Dokumentationen“ und “Bücher“ ermöglichen eine ausführlichere und zugleich übersichtlichere Darstellung der Informationen. Ostern selbst war relativ entspannt. Anette kam an den vier Tagen jeweils zur Morgenpflege und zum Teil auch zur Abendpflege, so dass meine Mutter entlastet war. Mit Anette haben wir wirklich viel Glück gehabt, denn sie arbeitete – neben ihren beiden Wochenenden im Monat, mehreren Abenden und einem Nachmittag in der Woche – bisher auch an allen Feiertagen und anderen Engpass-Tagen. :o) Dadurch brauchte meine Mutter in diesem Jahr erst drei Mal bei der Morgenpflege einzuspringen. Auch wenn sie sagt, dass sie damit am liebsten gar nichts zu tun hätte, ist es durchaus sinnvoll und wichtig, hin und wieder auch mal die Morgenpflege zu übernehmen, um nicht die Routine zu verlieren, mögliche Veränderungen mitzubekommen und so überhaupt in der Lage zu sein, mir helfen zu können. Nach Ostern brach plötzlich der Sommer aus. Das Wetter war viel zu schön, um lange am Laptop zu sitzen. Ich aalte mich erneut viel in der Sonne und war schon bald gold-braun wie ein Hähnchen. :o) Allerdings hatte der Genuss auch seine Schattenseiten – nach dem mehrmonatigen Umbau und der Renovierung der Küche meiner Eltern, folgte nur der außerordentlich geräuschvolle Abriss ihrer Terrasse. Durch die fremden Männer und den Höllenlärm war Judy mit den Nerven völlig am Ende. Sie bellte ununterbrochen und sah mich immer wieder hilfesuchend an, als wollte sie sagen: „Sandra, nun mach doch was, die bösen Männer machen hier einfach alles kaputt!“ Die braungebrannten, nackten Oberkörper der Bauarbeiter und Landschaftsgärtner waren bestimmt lecker anzuschauen – wenn ich sie denn in den durch das Zurechtschneiden der Granitsteinplatten entstehenden Staubwolken hätte erkennen können! Mir war aber auch nichts vergönnt! :o( Dafür freute ich mich umso mehr über die 100.000 Besucher auf meiner Homepage. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, in zehn Monaten so viele Menschen zu erreichen. Vielen lieben Dank für euer großes Interesse, für eure Anteilnahme und Treue. Anscheinend stolperten auch einige Redakteure von Zeitschriften, Produktionsfirmen und Fernsehsendern bei der Recherche zum Thema Amyotrophe Lateralsklerose über meine Homepage. Ich erhielt in den folgenden Wochen mehrere Anfragen, mein Leben mit der ALS für eine Reportage, einen Beitrag bzw. eine Dokumentation mit der Kamera begleiten zu dürfen. Ich war sehr unentschlossen. Einerseits wäre es natürlich wieder eine Chance gewesen, der ALS mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, andererseits hätte es für mich persönlich eine ziemliche Belastung bedeutet. Es ging aber nicht nur um mich. Meine Familie, Freunde, Pflegekräfte und Therapeuten mussten ebenfalls zustimmen und sich im Fernsehen oder einem anderen Medium zeigen wollen. Darüber hinaus hätte ich den ganzen organisatorischen Aufwand nicht allein bewältigen können und habe mich deshalb gegen die Fernseh-Karriere entschieden. Und auch eine andere Entscheidung ist gefallen. Meine Ergotherapeutin Katja hat sich im April gemeinsam mit ihrem Freund Thorsten den FriedWald im Elm angesehen. Sie haben viele Fotos gemacht und mir vorgeschwärmt, wie schön es dort sei. Daher möchte ich mir meinen Baum nun doch nicht per Foto oder Film, sondern direkt vor Ort aussuchen. Katja und Thorsten sowie einige Freunde wollen mich bei dem für Mitte Mai vereinbarten Baumauswahltermin begleiten. Spannung! :o)

Ende April erhielt ich eine Mail von Birgit, einer ALS-Betroffenen aus der Nähe von Wolfsburg. Zunächst hatte ich mich sehr gefreut, mal wieder etwas von ihr zu hören. Doch noch vor dem Öffnen der Mail bemerkte ich die Betreff-Zeile, und dort stand: Birgit! Ich wusste sofort, was das bedeutet. Die Nachricht von Birgits Tod hat mich sehr, sehr traurig gemacht. Obwohl ich Birgit nicht persönlich kannte und auch per Mail nur einige wenige Male Kontakt mit ihr hatte, wird mir ihr humorvoller Eintrag in meinem Gästebuch immer im Gedächtnis bleiben. Birgit schilderte darin unter anderem ein lustiges Missverständnis, bei dem Versuch, ihrer Pflegekraft durch Buchstabieren verständlich zu machen, dass sie den Pullover unter Birgits Kinn klemmen soll. Nachdem sie mehrmals erfolglos das Wort „Kinn“ wiederholt hatte, buchstabierte sie: „Konrad, Ida, Napoleon, Napoleon!“ Ihre Pflegekraft kannte aber diese Form des Buchstabierens nicht, verstand nur „Napoleon“ und folgerte messerscharf: Bei Napoleon kann es sich nur um ein Problem mit dem Arm handeln. :o) Dass Birgit es bis zum Schluss geschafft hat, sich ihren Humor zu bewahren und auch in verzweifelten Situationen trotzdem das Lustige zu sehen, gibt mir viel Mut. Es ist zwar nicht leicht, sein Lachen trotz der ALS nicht zu verlieren, aber das einzige was zählt, ist, dass wir es jeden Tag aufs Neue versuchen und nicht aufgeben. Ich selbst habe auch schon einige lustige Missverständnisse durch Buchstabieren erlebt. Zum Beispiel habe ich mal versucht Dorthe, Nicole und Verena klar zu machen, dass das Mädchen auf dem Kinderfoto einer Geburtstags-Einladung ich selbst bin. Nachdem ich das Wort „Ich“ unzählige Male wiederholt und schließlich mehrfach buchstabiert hatte – Ilona, Christian, Heinrich – gerieten die Drei jedoch auf einen völlig falschen Dampfer: „Ilona? Ilona und Christian? Kenne ich nicht. Du? Waren die auch bei uns auf der Schule?“ Naja, fast! :o) Hat der Dampfer erstmal abgelegt, kann ich noch so viel hinterher rufen und winken, es gibt einfach kein Zurück mehr. Zum Glück konnte meine Ma die Mädels etwas später wieder auf den richtigen Kurs bringen und die Irrfahrt beenden. Allerdings gab es in letzter Zeit noch einige weitere Anlässe zum Lachen. Ein Dauerbrüller sind die Versuche meiner Mutter, das Wort „Dekubitus“ richtig auszusprechen. „Wie heißt das, Debudikus?“ Nee. „Dekudibus?“ Nö, es hat weder etwas mit Küssen noch mit Bussen zu tun! :o) Ich finde es bemerkenswert, dass sie sich diese beiden fiesen Zungenbrecher merken kann, das eine richtige Wort jedoch nicht. Besonderes lustig sind natürlich auch immer doppeldeutige Versprecher. So rief meine Mutter letztens meinem Vater im Garten zu: „Rainer, kannst du mal Sandra um die Ecke bringen!“, worauf er etwas ungläubig nachfragte: „Was soll ich machen???“ :o) Er sollte mich nämlich eigentlich lediglich im Rollstuhl einmal ums Haus fahren! Irgendwann hat meine Ma auch mal zu mir gesagt: „Erst fege ich und dann mache ich dich fertig!“ oder Kerstin erklärte mir: „Jetzt gebe ich dir erstmal deinen Knopf und dann gebe ich dir den Rest!“ Jaja, nur keine  Hemmungen! :o)

Nach den vielen sonnigen und warmen Tagen im April und Anfang Mai, folgten nun einige Wochen voller Tristes und Regen. Ich sah zwar immer noch aus wie ein Hähnchen, allerdings eher wie eines vor dem Grillen – und das sowohl in der Hautfarbe als auch der Hautstruktur! Ich fror. Egal was ich anzog, ich hatte permanent Gänsehaut, Geierpelle oder – wie Kerstins Tochter Verena als Kind gesagt hat – Entenrau. :o) Natürlich fiel auch der Termin im FriedWald buchstäblich ins Wasser. Aber verschoben ist nicht aufgehoben und ich hoffe, wir finden schnell einen neuen Termin, an dem wieder alle Zeit haben. Katja hatte mir für diesen “Ausflug“ extra einen Pflege-Rollstuhl besorgt, dessen Rückenlehne nach hinten gekippt bzw. Rückenlehne und Sitzfläche nach hinten gekantelt werden kann. Trotz des Hightech-Rollstuhls blieb ein Problem bestehen – die Kopfstütze. Mein Kopf ist in alle Richtungen recht instabil und eine Abstützung des Hinterkopfes allein ist keine Lösung. Ich bräuchte sowohl eine Stürze am Kopf als auch im Bereich der Halswirbelsäule, um zu vermeiden, dass mein Kopf entweder zu weit nach hinten in die Überstreckung oder zu weit nach unten fällt und mir zu einem höchst unattraktiven Doppelkinn verhilft. :o) Bisher habe ich mir zwar meistens als “mein“ Experte selbst helfen können, aber in letzter Zeit bin ich schon des Öfteren mit meinem Latein am Ende gewesen. Wahrscheinlich könnten sich bei solchen Problemen die Erkrankten untereinander am besten helfen und vielleicht ist es möglich, auf meiner Homepage ein Hilfe-Forum einzurichten. Fragen, Schwierigkeiten, Informationen und Tipps könnten dann unter Betroffenen, Angehörigen, Pflegekräften usw. ausgetauscht werden. Meine Geschichte, meine Erfahrungen und Gefühle sind – auch wenn sich viele Betroffene darin wiederfinden – lediglich meine subjektiven Empfindungen und Sichtweisen. Ich bin ab und zu unsicher, ob ich bestimmte Dinge wirklich schreiben soll, aber ich möchte verdeutlichen, was mich beschäftigt, fordert, überfordert, nervt, verletzt, ärgert, freut, amüsiert usw. Ich erwarte keine Zustimmung, denn ich kann nicht ermessen, was andere Betroffene oder Angehörige durchmachen, was sie empfinden, denken, wollen. Ich spreche nur für mich, schildere mein Leben und meine Gedanken – so offen und ehrlich wie möglich. Um mehr Erkrankte zu Wort kommen zu lassen, habe ich den Menüpunkt “ALS-Betroffene“ eingerichtet, wo sich schon viele mutige Betroffene vorgestellt haben. Aber ich finde es genauso wichtig, dass Angehörige, Freunde oder Pflegekräfte schildern können, wie sie die Krankheit, den Krankheitsverlauf mit all seinen Veränderungen und Schwierigkeiten empfinden. Zunächst habe ich meine Familie gefragt, ob sie etwas über ihre Erfahrungen im Bezug auf meine Erkrankung für meine Homepage schreiben möchten, aber sie wollten nicht. Es wäre toll, wenn jemand den Mut und die Kraft aufbringen würde, das Leben mit der Krankheit aus Sicht der Pflegenden zu beschreiben. Ich weiß, dass das viel Überwindung kostet, aber es könnte bestimmt vielen Menschen helfen. Ich habe mich – ohne anmaßend sein zu wollen – schon oft gefragt, ob und wenn ja welche Situation, welche “Rolle“ schwerer zu tragen ist, die des Erkrankten oder die eines Familienmitglieds, Partners oder Freundes. Ist es schwerer langsam, Stück für Stück zu sterben oder ist es schwerer einem anderen Menschen dabei zuzusehen? Lässt sich das überhaupt ermessen bzw. vergleichen? Wahrscheinlich nicht! Im Grunde sind Betroffene mehrfach betroffen – erst müssen wir dem langsamen Verfall unseres Körpers hilflos zusehen, ihn mit allen Konsequenzen ertragen und dann verlieren wir den Rest unseres Lebens für immer. Andererseits sind auch Angehörige doppelt betroffen – erst stehen sie dem körperlichen Verfall ihrer Lieben genauso hilflos gegenüber, leiden mit ihnen und dann müssen sie den Rest ihres Lebens mit dieser Erinnerung leben. Beides ALS – die Absolut Letzte Scheiße! Sorry…

Es gibt bereits eine Art Raumanzug, mit dessen Hilfe das Altsein und typische Gebrechen wie Muskelschwäche, Unbeweglichkeit, Arthrose oder Rheuma simuliert werden können. Manchmal wünschte ich, es gäbe auch eine Möglichkeit, dass gesunde Menschen nur für einen Tag einen “ALS-Anzug“ tragen könnten, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was es bedeutet und wie es sich anfühlt ALS zu haben. Ich glaube nämlich – egal wie nah man an der Krankheit dran ist und egal wie sehr man es auch versucht – man kann es sich nicht vorstellen, man kann es nie wirklich nachempfinden. Ich hätte es trotz meiner ausgesprochen lebhaften Phantasie niemals für möglich gehalten, dass mir eines Tages schon mein eigener Arm zu schwer sein könnte oder dass das Atmen im Ruhezustand kräftezehrend sein kann. Das war für mich schlicht und ergreifend unvorstellbar! :o( Leider gibt es keinen solchen “ALS-Anzug“, aber es gibt im Leben immer mal wieder Situationen, durch die gesunde Menschen merken, wie hilflos man ist, wenn man sich – beispielsweise nach einer OP oder einem Arm- bzw. Beinbruch – nicht wie gewohnt bewegen kann und ständig auf Hilfe angewiesen ist oder wenn man – etwa durch eine Kehlkopfentzündung – vorübergehend nicht sprechen kann bzw. darf. Plötzlich sind die selbstverständlichsten Dinge sehr anstrengend, umständlich, nervenaufreibend, frustrierend oder schlichtweg unmöglich. Manchmal genügen aber auch schon “Kleinigkeiten“, wie meine schwerhörige Omi, um meiner Familie einen kleinen Eindruck meines Alltags zu vermitteln. Meine Omi bringt meine Mutter bei Telefongesprächen durch ihr häufiges Miss- bzw. Nichtverstehen nämlich häufig ziemlich ins Schwitzen. :o) Dadurch wurde ihr klar, wie anstrengend es sein kann, nicht richtig verstanden zu werden. Ähnlich interessant fand ich ihre Einsicht, dass bestimmte Dinge, nur weil sie bei mir leicht aussehen, noch lange nicht leicht sind – auch nicht für mich! Ich nehme meine morgendliche Tabletten-Ration – drei Kapseln Vitamin-E vom Format eines Bonbons, eine Schmerz- und eine Antidepressiva-Kapsel vom Format einer Rosine und eine Rilutek-Tablette vom Format eines tic tac – immer auf einmal in den Mund und spüle sie mit etwas Saft herunter. Konzentrieren, schlucken, fertig! Ganz einfach – dachte sie! :o) Eines Morgens wollte sie ihre zwei Vitamin-Bomben auch mal in einem Rutsch runterspülen, was aber gründlich misslang und heftiges Verschlucken, Prusten und Würgen auslöste. Sie war überrascht, wie schwer es ist, die großen Kapseln koordiniert zu schlucken und stellte lachend fest: „Selbst in deinem Mund bist du voll organisiert!“ :o) Und es stimmt – ich war schon immer ziemlich durchorganisiert und bin es durch meine Erkrankung und die damit verbundene Abhängigkeit wahrscheinlich noch mehr als früher. Ich mache bzw. lasse eigentlich nie etwas machen, ohne mir vorher Gedanken darüber gemacht zu haben oder ein sinnvolles Ziel zu verfolgen. Selbst meine spezielle Technik beim Zähneputzen hat einen bestimmten Sinn. Diese Erfahrung mussten wir machen, als mir meine Mutter eines Abends aus Zeitgründen schnell an meiner Stelle die Zähne putzen wollte. Durch die ungewohnten und – für meine rekordverdächtigen Schneckenverhältnisse – hektischen Putzbewegungen wurde vermutlich mein Würgereflex etwas überstrapaziert, denn plötzlich musste ich mich übergeben. Na dann: Mahlzeit! :o)

Über Pfingsten bekam ich erneut starke Schmerzen unter beiden Schulterblättern, diesmal allerdings völlig unabhängig von meinen BH-Trägern. Meine Schulterblätter sind derart spitz und meine Muskeln soweit abgebaut, dass sich der Knochen durch das permanente Anlehnen am Sofa langsam von innen durch die Haut bohrt. Zunächst fühlte es sich an, als hätte mir jemand zwei kleine Dreiecke zwischen Rückenlehne und Rücken geklemmt – mit der Spitze Richtung Rücken versteht sich! :o) Im Laufe der Stunden entwickelte sich jedoch aus dem punktuellen Schmerz ein richtiger “Flächenbrand“. Meine Haut schien wirklich zu brennen, sie wurde heiß und auch außerhalb der Druckstelle knallrot. Ich versuchte die Schmerzen zu ignorieren, aber es gelang mir immer nur phasenweise. Als ich jedoch am Pfingstmontag erfuhr, dass Jörg Immendorff gestorben ist, vergaß ich sie für einen Moment völlig. Es ist jedes Mal wieder ein Schock, wenn ich höre, dass ein Betroffener seinen letzten Kampf verloren hat. Mario, Peter, Dirk, Krzysztof, Roby, Birgit – sie sind alle nach mir erkrankt, aber vor mir gestorben. Jörg Immendorff ist kurz vor mir erkrankt – bedeutet das jetzt, dass er auch kurz vor mir gestorben ist? Blöder Gedanke, ich weiß ja! :o) Ähnlich schlimm ist es, mit einem liebenwerten Betroffenen in Mail-Kontakt zu stehen und plötzlich keine Antwort bzw. eine Meldung zu erhalten, dass seine Mail-Adresse nicht mehr existiert. Die Ungewissheit und die Angst, was das bedeuten könnte, sind sehr quälend. Ich habe schon mal darüber nachgedacht, ob und wenn ja wie sich das Ende wohl ankündigt? Kommt der Tod überraschend oder sieht, hört, spürt man ihn kommen? Eine Freundin hat mich vor Kurzem gefragt, ob ich fühlen und einschätzen kann, wie lange ich noch leben werde – ohne dass ich mir dessen bewusst war, habe ich ihr in meiner Antwort doch keine Antwort auf diese Frage gegeben. Weil ich es nicht konnte oder weil ich es nicht wollte? In der letzten Zeit sind mir nämlich merkwürdige Dinge aufgefallen, die ich unter anderen Umständen vermutlich nie wahrgenommen hätte. Plötzlich ergaben Wolkenformationen, Steinreliefe oder himmelblaue Lücken im grünen Blätterwald die Formen von Engeln, betende Händen oder Kreuzen. Und auf dem von Moos befallenen Übertopf auf meiner Terrasse verblieb nach dem Einsprühen mit entsprechenden Bekämpfungsmitteln eine grüne Fläche in Form eines Totenkopfs. Waren das etwa Zeichen? Ich war und bin irritiert!

Trotz des Krankheitsfortschritts, meiner zunehmenden Schwäche und Schmerzen habe ich bisher versucht, vor mir und den Menschen in meinem Umfeld den “gesunden Schein“ zu wahren. Ich versuche krampfhaft stärker, gesünder, „normaler“ zu wirken als ich mich in Wirklichkeit fühle. Es ist mir wichtig, der Krankheit, ihren Begleiterscheinungen, Hilfsmitteln und pflegerischen Utensilien nicht nur in meinen Gedanken und Worten sondern auch optisch so wenig Raum wie möglich zu bieten. Natürlich beschäftige ich mich im Rahmen meiner Homepage und in den daraus entstehenden Mail-Kontakten ganz intensiv mit dem Thema ALS, aber diese Auseinandersetzung empfinde ich als Therapie, sie ist positiv und wertvoll für mich. Dagegen würde mich eine gewisse “Krankenhaus-Atmosphäre“ negativ beeinflussen. Deshalb werden sämtliche Medikamente in einer Schublade aufbewahrt, mein Rollstuhl verschwindet unauffällig hinter einem Rollo, Rollator, Umfeldsteuerung und Taster passen zumindest farblich in meine Räume und stechen nicht übermäßig hervor. Ebenso habe ich die Personenruf-Geräte mitsamt Antenne und sämtlichen Kabellagen geschickt versteckt. Aber auch ich selbst möchte nicht so krank wirken und wenigstens äußerlich möglichst gesund aussehen – deshalb trage ich normale Klamotten und Schuhe, style meine Haare, färbe meine Wimpern, bräune im Sommer meine Haut, rasiere meine Achseln und epiliere tapfer meine Beine. :o) Natürlich können diese Äußerlichkeiten nicht wirklich darüber hinweg täuschen, dass ich krank bin, aber ich möchte so lange wie eben möglich auf mein Erscheinungsbild achten. Ich gestehe mir allerdings auch sonst kaum Schwächen, Nachlässigkeiten und Extrawürste zu – obwohl ich mir oft nichts sehnlicher wünsche, als einfach mal wieder schwach sein zu können. Seitdem ich mich nicht mehr ohne fremde Hilfe hinlegen und wieder aufsetzen kann, mache ich nachmittags keinen Mittagsschlaf mehr. Ebenso vermeide ich es, nachts Hilfe zu benötigen – zum Glück muss ich in der Nacht nie zur Toilette, so dass mein Schönheitsschlaf nur durch die immer wieder auftretenden Schmerzen im Nacken oder am Schulterblatt gestört wird. Jeden Morgen überwinde ich mich aufs Neue und quäle mich auch an Tagen, an denen ich vor Müdigkeit, Kraft- oder Lustlosigkeit am liebsten liegen bleiben würde, pünktlich aus dem Bett. Ich versuche, nicht über meine Situation zu jammern oder über Schmerzen zu klagen, sondern jeden Tag trotz allem gute Laune zu haben. Niemals wollte ich sagen: „Ich kann nicht mehr!“, obwohl ich diesen Satz schon Hunderte Male gedacht habe. Einerseits bin ich ziemlich stolz auf meine Disziplin und Härte mir selbst gegenüber, andererseits vermittele ich anderen Menschen dadurch viel mehr körperliche und seelische Stärke, als ich tatsächlich besitze. Infolge dessen werde ich oft überschätzt. Vielleicht habe ich mir dadurch sogar selbst ein X für ein U vorgemacht und die ständig zunehmenden Todesnachrichten, die seltsamen Vorkommnisse der letzten Wochen, die schockierenden Eindrücke des Filmbeitrags und nicht zuletzt das Thema Pflegedienst sollen mir zu denken geben und mir zeigen, wie krank ich tatsächlich bin.

Möglicherweise habe ich deshalb Angst vor einer intensiven Pflege-Betreuung – es wäre auch für mich der eindeutige Beweis für die Schwere meiner Erkrankung. Bisher musste ich immer stark sein, ich konnte es mir nicht erlauben, der ALS nachzugeben und mich einfach mal hängen zu lassen. Mein Tagesablauf musste schließlich eingehalten werden – schon allein deshalb, um den Tagesablauf meiner Helfer nicht durcheinander zu bringen! Wenn jedoch jemand in meiner Nähe wäre, um ausschließlich für mich da zu sein, mich zu unterstützen und mir beizustehen, erlaube ich möglicherweise meinem Kopf, meinem schwächer werdenden Körper nachzugeben, meine Schwächen zuzulassen, nachlässiger, gleichgültiger und weniger kämpferisch zu sein. Da in einem Leben mit der ALS eigentlich alles anstrengend und kräftezehrend ist, unterliege ich ständig der Versuchung, durch die Hilfe anderer Menschen passiver zu werden, die anderen machen, sprechen, entscheiden zu lassen. Ich habe Angst davor, zu passiv zu werden, das Zepter meines eigenen Lebens aus der Hand zu geben und mich selbst in dieser Passivität zu verlieren. Ich habe Angst, mein Leben aufzugeben noch bevor ich mein Leben wirklich aufgeben muss. Im Grunde habe ich keine Angst vor dem Pflegedienst sondern davor, was dieser möglicherweise aus mir macht. Ich habe Angst davor, bequem zu werden – nicht, weil ich es will, sondern einfach nur, weil ich es kann. :o( Genau genommen habe ich also Angst vor mir selbst und davor, dass meine bisher unerfüllten und unerfüllbaren Wünsche plötzlich erfüllbar werden! Hinzu kommt die große Sorge um meine Beine – denn neue Situationen, fremde Menschen und Veränderungen im allgemeinem bedeuten Stress und dieser führt schnell zu Kloni und Steifigkeit bzw. starker Streckspastik in den Beinen. Die Spastik be- bzw. verhindert nicht nur den normalen Ablauf der Pflege, sie beschert mir auch immer einen höllischen Muskelkater in den Tagen danach. Logischerweise ist das alles andere als angenehm und fordert mich körperlich und seelisch erheblich. Im Prinzip habe ich nur die Qual der Wahl zwischen Mist und Gülle: Entweder nehme ich die schmerzhafte Spastik mit sämtlichen Konsequenzen in Kauf, schwäche dadurch meine Beine und riskiere, die Standfestigkeit meiner Beine zu verlieren. Oder ich versuche die Entstehung der Spastik medikamentös zu verhindern, reduziere also absichtlich den Muskeltonus und riskiere dadurch ebenfalls die Standfestigkeit meiner Beine zu verlieren. Ich müsste mich also entscheiden, ob ich meine Beine mit oder ohne Anstrengung „verlieren“ möchte. :o(

Vielleicht habe ich ja Glück im Unglück und die ALS nimmt mir vorher diese Entscheidung ab. Im Moment schreitet die Krankheit deutlich schneller voran als in der Vergangenheit und ich kann wöchentlich Veränderungen, also Verschlechterungen, feststellen. Erstmals habe ich großflächige und heftige Faszikulationen an Bauch, Rücken und Oberschenkeln. Diese Muskelgruppen sind in den letzten Wochen erheblich schwächer geworden. :o( Ich habe in bestimmten Situationen zunehmend Probleme meinen Oberkörper zu stabilisieren. Wenn ich bei der morgen- und abendlichen Pflege über längere Zeit ohne mich anlehnen zu können auf dem Rollator sitze, schwankt mein Oberkörper beim Ein- und Ausatmen hin und her, wie bei einer Bootsfahrt. :o( Auch die Kraft meiner Beine ist gemindert und ich habe im Stehen immer schneller und immer öfter ein Gefühl in den Beinen, als wäre ich gerade Achterbahn gefahren oder hätte mich kurz zuvor furchtbar erschrocken. Sie sind ganz leicht, seltsam grenzenlos und die Zellen scheinen zu schweben. Noch gravierender ist der Fortschritt allerdings bei meinen Armen. Mein linker Arm war bisher etwa doppelt so stark wie mein rechter Arm, doch innerhalb weniger Tage ist er doppelt so schwach geworden. Insbesondere das Handgelenk hat deutlich an Kraft verloren und meine Hand hängt im 90°-Winkel abgeklappt und schlapp am Arm herunter. Das hat schwerwiegende Konsequenzen, denn nun muss ich meinen Unterarm um die gesamte Länge meiner Hand höher heben, um etwas zu erreichen bzw. nicht mit den Fingerspitzen irgendwo hängen zu bleiben. Diese Schwierigkeiten haben mich schon am rechten Arm enorm gefordert und oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Wenn ich beispielsweise am Laptop arbeite, sitze ich auf dem Sofa und bewege die Mouse mit der rechten Hand über ein großes Buch, das als eine Art Mouse pad auf meinen Beinen liegt. Die linke Hand führe ich flach über die Unterlage und unterstütze dadurch die Bewegungen der Mouse. Der Taster meiner Umfeldsteuerung liegt jedoch mit einem Höhenunterschied von etwa 20cm rechts neben mir auf dem Sofa. Wenn ich diesen erreichen möchte, schubse ich meine rechte Hand von der Mouse-Unterlage herunter und hoffe, dass sie einigermaßen „brauchbar“ landet und ich den Taster drücken kann. Anders herum – ohne die Hilfe der Schwerkraft – gestaltet sich die Sache allerdings deutlich schwerer. Häufig brauche ich unzählige Versuche, um meine Hand wieder zurück auf das Buch zu wuchten. Langsam wird es wohl Zeit, die Bedienung der Umfeldsteuerung vom Laptop aus zu ermöglichen. Wieder ein Schritt zurück! :o(

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