Forschungsgebiete der ALS
1 Familiäre ALS
2 Ursachenforschung
3 Therapieforschung
1 Familiäre ALS
ALS tritt in mehr als 90% der Fälle sporadisch auf, so dass für Familienangehörige in der Regel kein erhöhtes Krankheitsrisiko besteht. Weniger als 10% der ALS-Patienten haben dagegen weitere Krankheitsfälle in der Familie und somit einen Hinweis auf die erbliche (familiäre) Form der ALS (FALS). Sollten tatsächlich mehrere Familienmitglieder an einer ALS erkrankt sein, empfiehlt sich nach eingehender Information und reiflicher Überlegung eine genetische Beratung. Trotz intensiver Forschung wurden bisher lediglich zwei Gene mit der FALS in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Seit 1993 ist bei etwa 10% der FALS-Patienten, d.h. bei weniger als 1% aller ALS-Patienten, ein erblicher Defekt auf dem Chromosom 21 nachweisbar. Die genetischen Veränderungen (Mutationen) im Gen der Superoxiddismutase (SOD1), einem Protein, das im ZNS für die Entgiftung zellulärer Sauerstoffradikale verantwortlich ist, stellen bei diesen ALS-Patienten die Ursache dar. Auf welchem Weg dieser Enzymdefekt zum Krankheitsausbruch führt, ist bisher nicht abschließend geklärt. Vermutlich bewirkt die Mutation eine toxische Funktionsänderung des SOD1-Proteins, die eine Degeneration der motorischen Nervenzellen verursacht und so zum Krankheitsausbruch führt. Der Mechanismus der Neuronenschädigung ist aber unbekannt. Im Jahr 2001 wurde das ALS2 (Alsin)-Gen identifiziert, das wahrscheinlich an bestimmten Transportfunktionen innerhalb von Nervenzellen beteiligt ist. Allerdings konnte die ursächliche Bedeutung dieses Gens für die FALS nur für Familien in Nordafrika und Kuweit nachgewiesen werden. Für die übrigen 90% der familiären ALS-Fälle ist die Mutation noch völlig unbekannt. Die Forschung hofft aber, durch diese seltenen Mutationen auch Informationen über Ursachen und Mechanismen der Nervenzelldegeneration bei der häufigen sporadischen ALS zu gewinnen. Bisher können lediglich Hypothesen bezüglich ihrer Ursache formuliert werden.
2 Ursachenforschung
Obwohl die Ursache der nichterblichen Form der ALS weitgehend unverstanden ist, scheint es unwahrscheinlich, dass eine einzelne Ursache für die Krankheitsentstehung verantwortlich ist. Die Ursachenforschung geht derzeit davon aus, dass verschiedene genetische und äußere Faktoren durch Wechselwirkung zur Krankheitsverursachung beitragen. Die bekannteste Hypothese zur Entstehung der ALS ist die Glutamattoxizität. Glutamat ist ein Botenstoff (Neurotransmitter), der die Weiterleitung von Signalen zwischen motorischen Neurone im ZNS bewirkt. Mit Hilfe der Neurotransmitter werden vom Gehirn ausgesandte Informationen zur Muskulatur weitergeleitet. Der Verlust von Glutamat-Aufnahmeproteinen infolge einer Veränderung der Rezeptoren dieses Botenstoffs oder eine unkontrollierte Glutamatfreisetzung infolge einer Störung des Glutamattransportes, kann zu hohen Glutamatkonzentrationen im synaptischen Spalt führen. Diese Akkumulation löst einen neurotoxischen Prozess aus, der für die Degeneration der motorischen Nervenzellen bei der ALS verantwortlich gemacht wird. Auf Grundlage der Hypothese der Glutamattoxizität wurde das Medikament Rilutek mit dem Glutamat-Hemmstoff Riluzol zur Behandlung der ALS entwickelt.
Als weitere mögliche Ursache der ALS wird die Neurofilamenthypothese diskutiert. Stütz- und Transportmoleküle bestimmen sowohl den gerüstartigen Aufbau einer Nervenzelle (Zytoskelett) als auch die Transportprozesse von Zellbestandteilen. Wesentliche Eiweiß-Bestandteile des Zytoskeletts sind mikroskopisch kleine Röhrensysteme, die Neurofilamente. Eine Störung des Zytoskeletts zeigt sich als Störung des axonalen Transportes, die sich durch eine Schwellung des Zellkörpers von motorischen Nervenzellen und ihrer Fortsätze darstellt. Dieses Wissen ermöglichte den Nachweis genetischer Veränderungen bei einigen ALS-Patienten, so dass die seltene Mutation im Neurofilament-Gen als genetischer Risikofaktor der ALS angesehen wird.
Bei einer geringen Zahl von ALS-Patienten konnten hingegen Immunreaktionen gegen körpereigene Nervenbestandteile nachgewiesen werden. Laut der Autoimmunhypothese reagieren Antikörper mit Oberflächenstrukturen der Neurone und deren Fortsätzen. Da diese Autoantikörper aber auch bei anderen Erkrankungen auftreten, ist eine ursächliche Bedeutung von Immunreaktionen für die ALS eher unwahrscheinlich.
Es gab auch Hinweise, dass die sporadische ALS durch Infektionen mit Viren verursacht wird, denn ein Befall motorischer Nervenzellen z.B. durch das Poliomyelitis-Virus weist klinische Parallelen zur ALS auf. Verschiedene Untersuchungen zur ursächlichen Bedeutung dieser und anderer Viren haben jedoch keine Bestätigung der Virushypothese ergeben.
Ähnlich unsicher ist die VEGF-Hypothese, die auf eine tierexperimentelle Untersuchungsreihe im Jahr 2001 zurückgeht, in der die gentechnische Ausschaltung des Wachstumsfaktors VEGF bei Mäusen zu einer motorischen Erkrankung ähnlich der ALS führte. Bisherige Untersuchungen am Menschen konnten allerdings nicht eindeutig belegen, dass bei einem Teil der ALS-Patienten ein Mangel an VEGF zur Degeneration motorischer Nervenzellen beiträgt.
Ein interessanter Ansatz ist die physische Aktivitätshypothese. Im Januar 2005 wurden die Ergebnisse einer Untersuchung der Häufigkeit von ALS bei italienischen Fußballspielern von dem Neurologen Dr. Adriano Chio publiziert. Die Studie umfasste 7.325 Fußballspieler, die zwischen 1970 und 2002 in der Serie A oder B aktiv waren. Insgesamt wurden fünf Spieler identifiziert, die in dieser Zeit an ALS erkrankt sind. Da die Anzahl der statistisch zu erwartenden ALS-Erkrankungen in der untersuchten Sportlergruppe lediglich 0,77 Personen beträgt, besteht in der Berufsgruppe der italienischen Fußballprofis ein 6,5-fach erhöhtes Risiko einer ALS im Vergleich zur Normalbevölkerung. Mögliche Ursachen hierfür können hohe körperliche Aktivität im Allgemeinen, der Gebrauch illegaler Substanzen zur Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit („Doping“) oder genetische Faktoren für eine erhöhte Leistungsfähigkeit sein, die im späteren Lebensverlauf insbesondere bei Fußballspielern einen negativen Einfluss auf die Funktion motorischer Nervenzellen haben. Möglicherweise ist das ALS-Risiko aber auch fußballspezifisch und geht auf Mikrotraumatisierungen, z.B. durch Kopfbälle oder spezielle Umweltfaktoren, z.B. durch Düngemittel auf Fußballplätzen zurück. Auch eine systematische Analyse von 696.000 US-Soldaten, die 1990 im 1. Golfkrieg aktiv im Einsatz waren, ergab eine erhöhte Erkrankungshäufigkeit. Während von diesen Soldaten 40 Personen an ALS erkrankten, wurden in einer vergleichbaren Gruppe von 1,8 Millionen US-Soldaten ohne Einsatz im Golfgebiet lediglich 67 Neuerkrankungen festgestellt. Frühere Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen dem Körpergewicht, körperlicher Aktivität und einem erhöhten Erkrankungsrisiko haben gezeigt, dass ALS-Patienten vor Ausbruch der Krankheit häufig körperlich sehr aktive und schlanke Menschen waren. Allerdings sind ein schlanker Körperbau und körperliche Anstrengung keinesfalls als alleinige Ursachen der ALS sondern als mögliche Risikofaktoren in einem komplexen Ursachengefüge aus genetischen und exogenen Faktoren zu betrachten.
3 Therapieforschung
Neben der Ursachenforschung ist die Identifizierung eines geeigneten Markers für den Nervenzelluntergang zur Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs ein wichtiges Ziel der ALS-Forschung. Derzeit wird ein Eiweiß im Serum von ALS-Patienten untersucht, das den Untergang von Nervenzellen anzeigt. Ob dieser Verlaufs- und Prognosemarker tatsächlich für die Prognosestellung bei ALS geeignet ist, muss die längerfristige Auswertung belegen. In Anbetracht der Unkenntnis der Ursachen, der Abläufe und der Marker der ALS sind auch die therapeutischen Möglichkeiten sehr begrenzt. Vor diesem Hintergrund besteht die dringende Notwendigkeit, neue Therapien und Strategien gegen die ALS zu entwickeln. Erst seit wenigen Jahren ermöglicht ein Tiermodell eine Grundlagenforschung zur Therapie der ALS und eine Untersuchung von Medikamenten, bevor ihr Einsatz am Menschen entschieden wird. Im SOD1-Mausmodell der ALS wird gentechnisch hergestellten Mäusen das menschliche Gen der Superoxiddismutase (SOD1) einschließlich einer ALS-verursachenden Mutation übertragen. Das Tier wird zunächst gesund geboren und entwickelt sich normal, zeigt jedoch im Lebensverlauf Krankheitssymptome vergleichbar mit der menschlichen Form der ALS. Mit Hilfe dieses Mausmodells werden weltweit neue Therapieansätze der ALS erforscht, indem bei anderen Erkrankungen bereits etablierte Medikamente auf deren therapeutische Anwendung bei der ALS überprüft werden. Zeigt ein Medikament im Tiermodell einen positiven therapeutischen Effekt, wird dieser in Therapiestudien an den ALS-Zentren in Deutschland überprüft. Leider konnte bisher keine der doppelblinden, placebokontrollierten Studien die Ergebnisse möglicher Stillstände und Progressionsverzögerungen bestätigen.
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