Meine Geschichte 2005

2005

Neujahr kamen Katja und Sean zu Besuch. Sean wollte sich verabschieden, denn er hatte sich aus beruflichen Gründen entschieden, nach Dubai zu gehen. Katja wollte eventuell später nachkommen. Doch wie immer im Leben kam alles anders und die Beziehung zerbrach ein paar Wochen später. Ich vermisse Sean und seine warme, ruhige Art. Leider ist unser Kontakt beinah abgebrochen und ich finde es sehr schade, dass ausgerechnet bei ihm der Spruch „aus den Augen, aus dem Sinn“ zutrifft. Weil ich aber aus eigener Erfahrung weiß, dass manchmal Kontakte abbrechen oder im Laufe der Zeit einschlafen, obwohl man es eigentlich nicht möchte, bin ich weder enttäuscht noch böse, nur traurig. ;o( So habe ich zum Beispiel auch den Kontakt zu meiner Freundin Karin wieder verloren, nachdem sie mir in den ersten Monaten in Wolfsburg sehr geholfen hatte. Da wir immer offen über alles sprechen konnten, hatte sie mir vorher erklärt, warum sie nicht mehr kommen wollte. Im Gegensatz zu einigen anderen konnte ich daher ihren Rückzug verstehen, auch wenn ich traurig darüber war. Karin war sehr lebendig und wenn sie einen Raum betrat, schien immer die Sonne aufzugehen. Etwa zur selben Zeit wie bei Karin brach leider auch der Kontakt zu Stefans Freunden Sandra und Thomas ab. Sie hatten das zweite Haus gebaut, sich selbständig gemacht und das zweite Kind bekommen, da war es vielleicht fast eine logische Konsequenz, dass Freundschaften etwas auf der Strecke bleiben. Ich denke aber oft an sie, die süße Helena und unseren gemeinsamen Urlaub auf Mallorca, und überlege, ob ich mich einfach mal wieder bei ihnen melden sollte. Das ist aber aus irgendeinem, mir völlig schleierhaften Grund leichter gesagt als getan und so werde ich dieses Vorhaben wahrscheinlich noch ein bisschen vor mir herschieben. ;o)

Ende Januar musste meine Mutter wegen einer Operation eine Woche ins Krankenhaus. Anscheinend hatte mir diese Tatsache derart auf den Magen geschlagen, dass ich eine ziemlich schlimme Magen- und Darmgrippe bekam. Ich glaube, das war die schlimmste Woche meines Lebens! Kerstin war im Dauereinsatz, da sich meine Schwester und mein Vater mit der Pflege und dem Umgang mit mir nicht richtig auskennen. Übelkeit und Durchfall sind ohnehin schon schlimm, wenn man aber nicht in der Lage ist, im Notfall schnell ins Bad zu rennen, ist es die Hölle! ;o( Ich war total entkräftet und mein Körper spielte völlig verrückt. Insbesondere die Nächte waren eine einzige Katastrophe. Mein Körper schwitzte tierisch und ich war von oben bis unten klitschnass. Infolge dessen fror ich irgendwann wie ein Schneider, wodurch mein Körper total steif wurde und ich fast bewegungsunfähig war. Zur Spastik kamen ganz heftige Muskelkrämpfe infolge des Flüssigkeitsdefizits. Ich rief meinen Vater um Hilfe, doch er hörte mich nicht. Nach einem endlosen Kampf schaffte ich es, mit meinem Handy oben bei meinen Eltern anzurufen. Weil mein Vater aber vor dem lauten Fernseher schlief, wurde er trotz mehrerer Anrufe nicht wach. Ich hatte furchtbare Angst mich zu erkälten oder mir sogar eine Lungenentzündung einzuhandeln. Weil es erst Mitternacht war und ich nicht bis zum Morgen warten wollte, entschied ich mich Hilfe zu holen. Leichter gesagt als getan! ;o) Nach unzähligen Versuchen gelang es mir irgendwann, die Nummer meiner Schwester anzurufen. Ich konnte sie aber weder richtig hören, noch selbst etwas sagen, denn ich war total fertig. Ich hoffte einfach, dass sie die Situation erkennen und mir helfen würde. Nachdem auch sie ein paar Mal erfolglos versucht hatte, meinen Vater per Telefon zu erreichen, kam sie schließlich mit Mirko vorbei. So konnte ich wenigstens ein trockenes T-Shirt anziehen und die nass geschwitzte Bettdecke wenden. Irgendwie überstand ich den Rest der Nacht, aber ich war wirklich kraftlos und erschöpft. Am nächsten Tag kam meine Hausärztin und ich bekam Elektrolyte. Damit ließen zwar die Wadenkrämpfe etwas nach, aber ich schwitzte immer noch bei der kleinsten Anstrengung und insbesondere auch in den Nächten. Jedenfalls konnte ich vermeiden, noch einmal Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Nach dieser Woche war ich nicht nur deutlich leichter, sondern auch insgesamt deutlich schwächer. ;o(

Einige Wochen später kam mein Neurologe zu einem Hausbesuch zu mir. So konnte ich ihm ein paar meiner Hilfsmittel zeigen und er war von der Technik und den Möglichkeiten begeistert. Leider konnte ich mein Rollstuhl-Fahrrad nicht vorführen, aber wir versprachen, im Sommer mal mit dem Rad in die Praxis zu kommen. Eigentlich müsste ich dort in regelmäßigen Abständen zur „Untersuchung“ erscheinen, da es aber nichts zu untersuchen gibt und ich auch sonst keine gravierenden Probleme habe, brauche ich mir diesen Stress nicht antun. Zu Beginn meiner Erkrankung bin ich auch noch regelmäßig in die ALS-Ambulanz nach Bochum gefahren. Nach meinem Umzug nach Wolfsburg war ich gezwungen, mir eine neue Ambulanz zu suchen. Einmal war ich in der MHH in Hannover. Weil ich dort aber geschlagene fünf Stunden warten musste und zudem bei der ärztlichen Betreuung ein Rotations- oder Zufallsprinzip angewendet wurde, blieb es auch bei diesem einen Besuch. ;o( Ein Jahr später versuchte ich es noch einmal in der ALS-Ambulanz der Uniklinik in Magdeburg. Dort musste ich weder lange warten noch waren viele Ärzte für die Betreuung der ALS-Patienten zuständig. Der zuständige Arzt nahm sich viel Zeit für mich und dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass sich der ganze Aufwand für mich überhaupt lohnt. Da ich ab und zu noch telefonischen Kontakt zum zuständigen Arzt der ALS-Ambulanz in Bochum hatte, rief meine Mutter ihn einfach mal an. Er informierte uns über die neusten Studien und Forschungsergebnisse und bot uns an, telefonisch oder per E-Mail immer für Fragen und Probleme zur Verfügung zu stehen. Er kennt meine Geschichte von Anfang an und ich würde mich wirklich gern mal wieder bei ihm vorstellen. Leider ist Bochum zu weit entfernt. Eventuell probiere ich es noch mal in der Charitè in Berlin. Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei!

Im April bekam ich plötzlich frühmorgens eine sms von meiner Freundin Kerstin. Weil sie mich fragte, ob ich Zeit für sie hätte und ich merkte, dass irgendetwas passiert war, sagte ich meine Therapie ab und Kerstin kam vorbei. Kerstin sah aus wie ein Häufchen Elend und sagte mir, sie sei schwanger. Ich konnte auf der einen Seite zwar verstehen, dass sie sich nicht richtig freuen konnte. Auf der anderen Seite fiel es mir schwer nachzuvollziehen, wie sie über ein solches Glück derart unglücklich sein konnte. Ich würde alles dafür geben, ein Baby unter dem Herzen tragen und Leben schenken zu dürfen. Es tat weh, mir ein Kind zu wünschen und gleichzeitig zu wissen, dass ich keines bekommen werde. Und Kerstin bekam die Möglichkeit, ihr Leben, den Sinn bzw. die Werte in ihrem Leben neu zu definieren, ihrem Baby Liebe und Wärme zu geben, wollte es aber nicht. Komische Situation! Ich hoffte, dass Kerstin sich spätestens freuen würde, wenn der Kleine auf der Welt ist und sie dann begreifen würde, was für ein Wunder so ein Baby ist. Ich jedenfalls freute mich und konnte es kaum erwarten, dem Kleinen viele süße Klamotten und Spielsachen zu kaufen. ;o) Einige Wochen später fragte Kerstin mich, ob ich nicht ein paar schöne Namen für einen Jungen wüsste. Seit ich vor vielen Jahren bei Freunden mitbekommen hatte, wie schwer es ihnen fiel, einen schönen, aber nicht so häufigen und gleichzeitig nicht zu ausgefallenen Namen für ihre Tochter zu finden, führe ich eine Namensliste. Immer wenn ich irgendwo einen Namen höre, der mir gefällt, kommt er auf meine Liste. Es ist fürchterlich, wenn in einer Klasse mehrere Kinder denselben Namen haben. In den 60ern und 70ern scheinen beispielsweise die Mädchennamen Kerstin, Katja oder Sandra und die Jungennamen Andreas, Dirk, Stefan oder Thomas voll im Trend gewesen zu sein. Anders kann ich mir nicht erklären, dass es in meinem Umfeld sechs Kerstins, drei Katjas und drei Sandras gibt und ich permanent durch einen Zusatz klar machen muss, welche ich gerade meine. ;o) Außerdem kenne ich fünf Andreas, vier Dirk, drei Thomas und zwei Stefan. Jedenfalls sollten Kerstin und Olli versuchen, einen selteneren Namen zu finden. Ich bin gespannt!

Seit Mai sind meine Eltern im Ruhestand. Sie können mir jetzt sozusagen gemeinschaftlich auf die Nerven gehen und auch ich habe mehr Gelegenheit, ihre Nerven zu strapazieren! ;o) Obwohl wir uns wirklich gut verstehen, Spaß zusammen haben und viel lachen ist es nicht ganz leicht, mit seinen Eltern so nah beieinander zu leben und darüber hinaus auch noch von ihnen abhängig zu sein. Durch meine Abhängigkeit neigen sie dazu, mich hin und wieder wie ihr Kind von früher zu behandeln. Das ist mit fast 34 Jahren echt anstrengend. ;o) Manchmal nehmen sie mich nicht ernst, hören mir nicht richtig zu oder lassen mich nicht aussprechen. Ich könnte jedes Mal platzen, wenn ich mit meiner dünnen Stimme einfach nicht zu Worte komme! Wenigstens weiß ich jetzt, wie sich früher alle gefühlt haben müssen, wenn Quasselstrippe Sandra das Wort hatte. ;o) Da mich das Sprechen inzwischen aber ziemlich anstrengt, wünsche ich mir eigentlich generell etwas mehr Aufmerksamkeit, wenn ich etwas sage oder sagen möchte. Außerdem bin ich mittlerweile so schlecht zu verstehen, dass mein Gegenüber sich voll auf mich konzentrieren muss, um mich überhaupt verstehen zu können. Oft sind meine Leute aber beschäftigt oder in Gedanken, hören mir deshalb nur halb zu und antworten bzw. reagieren dann äußerst merkwürdig. Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, zu fragen „Was habe ich denn gesagt?“, wenn ich das Gefühl habe, dass sie nicht richtig zugehört haben. ;o) Mache ich zum Beispiel darauf aufmerksam, dass unter dem Tisch viele Haare vom Hund liegen, kann es sein, dass ich im nächsten Moment eine hektisch wischende Hand im Mund habe, weil sie dachten, ich hätte ein Haar im Mund. ;o) Manchmal habe ich meinen Satz noch nicht mal zur Hälfte beendet, da handeln sie schon und fragen anschließend, ob sie das überhaupt machen sollten. Es ist anstrengend, wenn ständig jemand an mir rumfummelt und irgendwelche Dinge tut, gegen die ich mich nicht so schnell wehren kann. Zum Glück können wir im Nachhinein aber eigentlich immer darüber lachen. ;o)

Genauso nervig und zugleich doch irgendwie amüsant wie diese Unkonzentriertheiten, ist die Vergesslichkeit oder Zerstreutheit meiner Ma. Trotz oder vielleicht gerade wegen der immer wiederkehrenden und täglich gleich ablaufenden Tätigkeiten hat sie manchmal nicht die leiseste Ahnung, was sie als nächstes machen muss. ??? Ich sage dann immer nur „Mami, wie immer!“, was sie aber ziemlich nervt! ;o) Ich habe meinerseits aber auch keine Lust ständig Anweisungen geben zu müssen. Manchmal will sie mich plötzlich schon nachmittags bettfertig machen oder sie fährt mich abends nach dem Ausziehen in meinen Schlafklamotten wieder zum Sofa und wird sauer, wenn ich mich hartnäckig weigere aufzustehen. ;o) Sie muss dann oft über sich selbst lachen oder sie bemerkt ihren Irrtum und fragt sich: "Ja, was mache ich hier eigentlich?"! ;o) Ein paar Mal hat sie mich auch schon komplett vergessen. Sie bringt mich beispielsweise auf Toilette und geht mit den Worten „Ich komme gleich wieder“ in den Keller, um etwas Tiefgefrorenes für das Essen zu holen und in die Küche zu bringen. Irgendwo zwischen Keller und Küche bin ich gedanklich quasi verloren gegangen und sie beginnt mit lärmender Dunstabzugshaube zu kochen. Da hilft kein Rufen und Schreien, da heißt es geduldig abwarten! Nach über einer Stunde kommt sie mit meinem Essen die Treppe runter, läuft am Bad vorbei in mein Wohnzimmer und stutzt hörbar, weil ich nicht wie immer auf dem Sofa sitze. Danach kommt sie ins Bad und fragt mich allen Ernstes, was ich denn hier auf Toilette mache!!! ;o) Leider kann ich in diesen Situationen nie ernst bleiben und muss eigentlich immer lachen, auch wenn mir im Grunde nicht zum Lachen zumute ist.

Zum Lachen war in den vergangenen Monaten auch meiner Schwester und Mirko nicht zumute, ihr Hausbau hat beide richtig Nerven gekostet. Es war nämlich ein Katastrophen-Bau und die beiden waren froh, als sie Ende Mai endlich in ihr Haus einziehen konnten. Da ich Nina relativ selten sehe und noch seltener spreche, kenne ich aber wahrscheinlich noch nicht mal alle Pannen, aber die, von denen ich weiß, reichen mir schon!!! Wie sie diesen ganzen Stress noch neben ihrem Job bei VW, ihrem Job im SFC und ihrer Beziehung zu Mirko bewältigt, ist mir ein Rätsel. ;o) Und seit Mirkos Heiratsantrag im letzten Oktober planen die beiden auch noch ihre Hochzeit für dieses Jahr ein. Da ist es ja nur logisch, dass Nina nicht auch noch viel Zeit für mich hat. Als ich vor fast drei Jahren wieder nach Wolfsburg kam, hatte ich gehofft, wieder ein besseres oder vertrauteres Verhältnis zu ihr zu bekommen. Unser Verhältnis ist nicht schlecht, aber eben auch nicht besonders innig. Vielleicht verstehen wir uns einfach als Schwestern gut und haben uns lieb, aber interessieren uns nicht so sehr füreinander als Menschen. Jedenfalls hätte ich mich gefreut, wenn meine Erkrankung dazu beigetragen hätte, uns einander näher zu bringen. Dann hätte die ALS wenigstens etwas Gutes gehabt. Aber ich kann und möchte auch niemanden „zwingen“, Zeit mit mir zu verbringen. Natürlich springt Nina hin und wieder mal ein, wenn meine Eltern über Nacht weg sind, und übernachtet dann hier, aber das ist nicht die Art von Zeit, die ich mir eigentlich wünsche. Ich hätte es schön gefunden, wenn sie mir ihre Hilfe und ihren Beistand angeboten hätte, aber ich verstehe auch, dass sie ihr eigenes Leben hat und vielleicht auch nicht so gut mit meiner Erkrankung umgehen kann. Schade finde ich es trotzdem, dass wir wenig Kontakt haben!

Ende Mai kam der nächste Schock für mich, als ich vom Tod des ebenfalls an ALS erkrankten Fußballers Krzysztof Nowak erfuhr. Er hatte erst seit etwa vier Jahren ALS. Wir hatten uns auf Benefiz-Veranstaltungen wie den Eishockey-Spielen zwischen Fußballern des VfL Wolfsburg und Eishockeyspielern des EHC Wolfsburg etwas kennen gelernt. Er war erst 29 Jahre alt und hat eine Frau und zwei kleine Kinder. Ich verstehe die Welt nicht. Warum verläuft die ALS bei mir relativ langsam? Was mache ich anders? Mache ich überhaupt etwas anders? Fällt es mir vielleicht leichter, das „alte“ Leben loszulassen und auf meinen eigenen Körper zu hören? Trotz aller Schwierigkeiten habe ich von Anfang an versucht, die ALS als einen Teil meines Lebens anzunehmen und sie dennoch nicht zu meinem Lebensmittelpunkt zu machen. Natürlich ist es nicht leicht mit ALS zu leben, aber sie ist nun mal da und es nutzt nichts dagegen anzukämpfen und sich zu fragen „Warum ALS?“ und „Warum ich?“. Darum habe ich sie als einen Teil meines Lebens akzeptiert und lebe mein Leben so, wie ich es noch kann. Ich glaube, je weniger ich die ALS beachte, desto weniger kommt sie auch zur Geltung. Wenn ich sie nicht sehe, sieht sie mich vielleicht auch nicht?! Ich hoffe es zumindest! Ich strafe sie jedenfalls weitgehend mit Nichtbeachtung und fühle mich ganz wohl dabei. Natürlich habe ich auch mal schlechte Tage, an denen ich vor Verzweiflung, Wut und Enttäuschung schreien könnte und natürlich ist es sehr deprimierend, immer auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Aber ich kann es leider nicht mehr ändern!

Dementsprechend war es unvermeidlich, eine weitere Pflegekraft zu suchen, die nicht nur an den beiden Wochenenden zur Morgenpflege kommen konnte, an denen Kerstin frei hatte, sondern auch mal an Feiertagen, am Abend und als Urlaubsvertretung. Es war wirklich nicht leicht jemanden zu finden, der so flexibel ist. Darüber hinaus musste natürlich auch die Chemie zwischen uns stimmen und die Person irgendwie zu mir passen. Wenn ich mit einem fremden Menschen so nah und intim zusammen sein sollte, musste ich den anderen unbedingt "riechen" können und umgekehrt natürlich auch! Schließlich fanden wir mit Hilfe meiner Physiotherapeutin Andrea eine gelernte Altenpflegerin. Sarah war 27 Jahre alt und wirklich sehr nett und offen. Allerdings redete sie oft schon am frühen Morgen viel, während ich praktisch noch im Koma und nur wenig kommunkativ war. ;o) Immer wenn sie mir das Schlafshirt ausziehen wollte, kündigte sie das mit den Worten an: "Na, dann wollen wir dir mal das Fell über die Ohren ziehen!" Hatte ich beim ersten Mal noch gelacht, fand ich es nach dem fünften Mal schon nicht mehr so witzig. Wahrscheinlich hat sie in der Altenpflege gelernt viel und lustig mit den älteren Menschen zu reden und sie tat das jetzt ganz automatisch. Unangenehmer war mir, dass Sarah häufig stark nach Schweiß roch. Ich konnte in ihrer Nähe manchmal kaum atmen - das war mir wirklich sehr peinlich! Wir haben sie mehrmals diskret darauf aufmerksam gemacht, aber leider konnte sie es nicht ändern oder abstellen. Ich überlegte, mir noch mal jemand Neues zu suchen, zumal sie mich auch nicht besonders gut verstand. Körperlich hilflos zu sein ist lange nicht so schlimm, wie sich nicht verständlich machen zu können. Da mich aber bereits die Einarbeitung von Sarah viel Kraft gekostet hatte und ich danach schwächer war als zuvor, hätte ich durch eine erneute Einarbeitung wieder viele Kräfte verloren. Außerdem waren wir froh, überhaupt jemanden gefunden zu haben und wir brauchten dringend eine Urlaubsvertretung, da Kerstin im Juli für zwei Wochen in den Urlaub ging. Also blieb Sarah und ich lernte die Luft anzuhalten. ;o)

Darüber hinaus war meine Mutter ziemlich froh, die Pflege und Hilfe für mich mit Kerstins, Tinas und Sarahs Unterstützung soweit organisiert zu haben. Weil die Pflege für eine einzelne Person ohnehin zu viel und zu belastend gewesen wäre, versuchten wir im Laufe der Zeit ihre Betreuungszeiten immer weiter zu reduzieren. Glücklicherweise fanden wir meistens relativ schnell eine Lösung. Zu Anfang hatte meine Mutter die komplette Hilfe übernommen, die damals noch aus gelegentlichen Hilfestellungen und der Zubereitung des Essens bestand. Weil der Haushalt und die zunehmende Hilfe für mich bald zuviel waren, benötigten wir eine Haushaltshilfe. Zum Glück fanden wir Tina, die schnell auch andere Tätigkeiten übernahm und mir bei immer mehr Dingen half, was meine Mutter zusätzlich entlastete. Als die Morgenpflege intensiver wurde, stellten wir Kerstin als Pflegekraft ein. Weil meine Mutter aber gerne an den Vormittagen in der Woche komplett entlastet sein wollte, fragte ich Kerstin und Tina, ob sie mir auch Essen und meine Tabletten geben würden. Somit war ich an jedem Wochentag bis mittags betreut und bis zum frühen Nachmittag bestens versorgt. Anschließend brauchten wir jemanden für nachmittags, um für meine Mutter auch hier die Verpflichtungen möglichst gering zu halten, und ich fragte Kerstin, ob sie nicht zusätzlich mal am Nachmittag kommen möchte. Erst war es einer, dann zwei, jetzt drei Tage, an denen Kerstin auch nachmittags kommt, um mir Kaffee und Kuchen zu geben und mich zur Toilette zu bringen. An diesen drei Tagen bin ich in der Regel bis zum frühen Abend vorsorgt und unabhängig, so dass meine Eltern in Ruhe Ausflüge oder Erledigungen machen können. Sie wollten aber gerne auch mal am Wochenende jemanden haben, der die Morgenpflege übernimmt. Zum Glück passte es Kerstin und sie kam erst an einem, später an zwei Wochenenden im Monat. Schließlich übernahm Kerstin auch am Wochenende das Frühstück usw., so dass ich auch an diesen Tagen bis zum Nachmittag unabhängig war. Für die Morgenpflege an den beiden verbleibenden Wochenenden fanden wir Sarah, die diese übernahm. Weil meine Ma wiederholt den Wunsch geäußert hatte, mich bereits am frühen Abend mehr oder weniger „bettfertig“ machen zu wollen, gab ich meinen Widerstand auf. Nach dem Abendessen gingen wir nun immer sofort ins Bad. Trotzdem fragte sie Sarah, ob sie nicht auch abends kommen könnte, um diese Tätigkeit an zwei Tagen zu übernehmen. Mir war es etwas unangenehm, Sarah für 25 Minuten „Arbeit“ 24 km mit dem Auto fahren zu lassen. An diesen Tagen artete das Essen für mich oft in Stress aus, weil mir Sarah sozusagen im Nacken saß. Schließlich musste ich fertig sein, wenn sie kam. Ich war gezwungen schneller zu essen als normal, und da das Kochen und Essengeben für meine Mutter sowieso sehr zeitaufwendig war, gewöhnte ich mir an, maximal 20 Minuten zu essen. Ausnahmen wie Sushi, Antipasti oder frisches Brot bestätigen diese Regel. Dann genieße ich auch mal wieder und lasse mich durch nichts und niemanden hetzen. ;o) Der Wunsch, jemanden zu finden, der mir abends das Essen geben und mich auch ins Bett bringen kann, könnte jedoch etwas schwieriger zu erfüllen sein!

Ich bin für meine Eltern natürlich eine enorme körperliche und auch psychische Belastung und ihren Ruhestand haben sie sich sicherlich anders vorgestellt. Aber auch ich habe weder laut „hier“ geschrien noch wie wild mit den Fingern geschnipst, als die ALS verteilt wurde. ;o) Meine Hilfebedürftigkeit infolge der ALS macht es mir praktisch unmöglich, die alleinige Verantwortung für mich zu übernehmen. Leider kann ich mich nicht mehr um mich selbst kümmern. Ich bin darauf angewiesen, dass andere Menschen sich verantwortlich für mich fühlen und es ist sehr schwer, solche Menschen außerhalb der eigenen Familie zu finden. Ich weiß, dass meine Eltern auf einige Dinge verzichten müssen und nicht immer völlig flexibel ihre Tage gestalten können. Ihre Freunde und Bekannten unternehmen viel gemeinsam, fahren oft in den Urlaub und gehen ziemlich früh ins Bett. Alles Dinge, die meine Eltern nicht mehr uneingeschränkt machen können. Während die anderen ihre Tage in Ruhe verbringen, muss insbesondere meine Mutter zwischendurch mit mir zur Toilette oder mein Essen zubereiten und mir geben. Sie hat mir mal gesagt, sie wisse ja nicht, was ihr eigenes Leben noch an negativen Überraschungen für sie bereithalte. Deshalb wäre eigentlich jetzt die Zeit, um ihr eigenes Leben zu genießen. Ich verstehe das und ich würde alles dafür geben, dass sie ihr Leben so leben könnte, wie sie es möchte! Aber ich kann mich natürlich auch nicht in Luft auflösen, und solange ich und die ALS da sind, werde ich nichts daran ändern können. Und als kleiner Egoist hoffe ich, dass sich daran so schnell auch nichts ändern wird! ;o) Ich habe allerdings schon ein paar Mal darüber nachgedacht, ob eine Magensonde und vielleicht sogar auch ein Blasenkatheter nicht doch eine Entlastung wären. Dann könnten wir beide die Zeit für Toilettengänge und das Essens einsparen. Theoretisch könnte ich mir bei der Gelegenheit gleich noch einen künstlichen Darmausgang legen lassen. Wenn ich schon dabei bin Löcher in meinen Bauch zu machen, kommt es auf eins mehr oder weniger auch nicht mehr an. ;o) Andererseits sträubt sich bei mir alles bei dem Gedanken daran und ich finde meinen Bauch ohne Löcher und Schläuche irgendwie schöner. Und so oft gehe ich eigentlich auch nicht zur Toilette!

Momentan sieht mein Tagesablauf nämlich in etwa wie folgt aus: Ich werde um 8 Uhr geweckt und um 8.30 kommt täglich meine Pflegekraft Kerstin. Mit ihr stehe ich auf und fahre auf meinem Rollator sitzend ins Bad. Sie hilft mir auf Toilette, wäscht mich, zieht mich an, hält meine Zahnbürste beim Zähne putzen und fönt mir die Haare. Nach einer knappen Stunde sind wir fertig und mit Hilfe meiner Haushaltshilfe Tina bzw. meiner Eltern hebt sie mich auf meine Therapieliege. Hier entspanne ich mich 15 Minuten mit Hilfe meiner Chi-Maschine. Ab 10 Uhr habe ich täglich für etwa 45 Minuten Therapie. Danach fährt Tina bzw. Kerstin mit mir zur Toilette. Anschließend bringt sie mich auf mein Sofa, wo ich den ganzen Tag sitze. Hier gibt mir Tina oder Kerstin auch mein Frühstück und meine Tabletten. Anschließend bekomme ich meinen Laptop und bin dann zwei bis drei Stunden ohne Betreuung. Dank einer Softwaretastatur kann ich in dieser Zeit selbstständig und ohne Hilfe im Internet surfen, E-Mail schreiben oder meine diversen Tabellen und Listen bearbeiten und aktualisieren. Parallel kann ich mit Hilfe meiner Umfeldsteuerung meinen Fernseher, CD- und DVD-Player ganz einfach mit nur einem Taster bedienen. Falls ich zwischendurch auf Toilette muss oder doch mal Hilfe brauche, kann ich über die Umfeldsteuerung bzw. über einen Personenruf meine Eltern per Pieper rufen. Nachmittags kommt Kerstin an drei Tagen erneut für ein bis zwei Stunden zu mir. Sie geht mit meinem Hund, bringt mich auf Toilette, räumt geduldig Sachen auf oder um, erledigt verschiedene persönliche Dinge für mich oder wir quatschen einfach nur. Sie macht mir einen Latte Macchiato, gibt mir Kuchen oder Kekse und meine Tabletten. Danach mache ich eine Pause und ruhe mich etwas aus oder schaue fern. Manchmal besuchen mich auch Freunde. Eventuell gehe ich mit meiner Mutter zwischendurch noch mal zur Toilette und danach wieder an meinen Laptop. Nach 18 Uhr gibt sie mir in der Regel mein Abendessen und ich gehe mit ihr bzw. Sarah anschließend erneut ins Bad, wir putzen meine Zähne und waschen mein Gesicht. Den Rest des Abends verbringe ich wieder allein vor dem Fernseher oder am Laptop. Meine Ma bringt mich schließlich mit Unterstützung meines Vaters ins Bett. Sollte ich in der Nacht mal Hilfe brauchen, kann ich auch hier über die Umfeldsteuerung bzw. über einen Personenruf meine Eltern per Pieper rufen. Am nächsten Morgen geht alles von vorne los. Und täglich grüßt das Murmeltier! ;o)

Der Sommer war sehr merkwürdig. Entweder war das Wetter schlecht und so unbeständig, dass ich überhaupt nicht raus konnte, oder es war super schön und so heiß, dass ich trotz meines Ventilators nicht draußen sein konnte, ohne fast zu schmelzen. Weil ich aber im Winter schon nicht an die frische Luft komme, muss ich die wenigen schönen Tage nutzen. Naja, nur die Harten, kommen in den Garten! ;o) Sonst passierte nicht viel, allerdings war ich auch für drei Wochen quasi in Frankreich, denn es war wie immer Tour de France. Ende Juli zog meine Physiotherapeutin Andrea ins Ruhrgebiet und eine ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen übernahm die Therapie. Nicole hatte Andrea vorher schon ein paar Mal vertreten und wir verstanden uns sofort gut. Andrea ist mir in den drei Jahren sehr ans Herz gewachsen und ich freue mich sehr, dass sie mich ab und zu besuchen kommt, wenn sie in Wolfsburg ist. Im August meldete sich Karin wieder bei mir und kam kurz darauf auch vorbei. Ich mag ja ihre Lebendigkeit sehr und war froh, dass wir nach fast zwei Jahren „Sendepause“ wieder Kontakt hatten. Nun war aber auch die für den 09. September geplante Hochzeit meiner Schwester nicht mehr weit. Ich hatte bereits im Mai begonnen, nach passenden Klamotten im Internet zu suchen. Hatte meine Mutter sich damals noch über meine frühen Bestellungen amüsiert, bekam sie jetzt langsam Panik, weil sie nichts fand, was ihr gefiel. ;o) Anfang September feierten wir Ninas Junggesellinnen-Abschied, alle Mädels mussten mit einem rosa Oberteil kommen. Judy war natürlich auch dabei und bekam eine große rosa Schleife aus Tüll umgebunden, was sie nur mäßig lustig fand. Ich war froh, dass sie nicht wusste, was ich mir für die Hochzeit überlegt hatte, denn dagegen war die Schleife wie ein Halsband aus lauter Leckerlis! ;o)

Die Hochzeit von Nina und Mirko war wirklich schön, aber für mich auch sehr anstrengend! Es ging schon morgens früh um 8 Uhr los. Um 9 Uhr war ich soweit fertig und meine Haare wurden mir dann von meiner Friseurin gestylt. Anschließend bin ich mit dem Rollstuhl-Taxi zum Standesamt nach Fallerleben gefahren - nach 3 km und ca. 5 min. Fahrtzeit war ich für die einfache Fahrt 30 Euro los!!! Wenn ich nicht schon gesessen hätte, hätte ich mich jetzt erstmal setzen müssen. Ich habe dann dankend auf jede weitere Fahrt verzichtet. ;o) Danach haben wir bei 30 Grad im Standesamt geschwitzt und anschließend war großer Sektempfang vor dem Standesamt. Es folgte noch eine endlose Fotosession mit dem Brautpaar. Judy hatte ich ein Schild mit „just married“ umgehängt und eine Schnur mit leeren Dosen am Halsband befestigt. Die sollte sie hinter sich herziehen, was sie aber nicht so lustig fand wie wir! ;o) Meine Pflegekraft Kerstin war auch den ganzen Tag dabei und hat sich um mich gekümmert. Ohne sie hätte ich gar nicht mitkommen können, denn meine Eltern waren natürlich mit genug anderen Dingen beschäftigt. Gegen Mittag fuhren wir, also Familie und Trauzeugen, in das italienische Bistro bzw. Cafe eines Freundes zum kleinen Mittagssnack mit Antipasti, diversen Nudelgerichten und Salaten. Nando kenne ich schon ewig und auch in seiner Familie gibt es ALS-Fälle, weshalb ich mich in seiner Nähe nicht so unsicher fühle wie anderswo. Am Nachmittag fuhren wir kurz nach Hause. Ich konnte endlich auch etwas essen und mich ein bisschen ausruhen. Durch die vielen Stunden im Rollstuhl, wo ich ja immer in derselben Position sitze, tat mir alles weh. Insbesondere mein Nacken hatte trotz Kopfstütze schwer gelitten und es fiel mir sehr schwer den Kopf zu halten. Aber das dicke Ende kam erst noch. Am späten Nachmittag kam Kerstin wieder zu mir, denn abends fand im Seehotel eines nah gelegenen Sees die Hochzeitsparty mit ca. 60 Gästen statt. Für mich ist es eigentlich immer blöd auf einer Party, denn ich kann weder essen noch mich unterhalten, geschweige denn tanzen oder rumlaufen. Aber wer möchte schon freiwillig die Hochzeitsparty der kleinen Schwester verpassen?! ;o) Obwohl es im Hinblick auf die ALS und meine Kräfte sicherlich die bessere Entscheidung gewesen wäre. Bestimmt habe ich besonders meine Nacken- und Schultermuskulatur völlig überanstrengt und infolge dessen auch stark geschwächt. Das war mir durchaus schon vorher bewusst und ich habe mich genauso bewusst dafür entschieden, dieses Risiko einzugehen. Aber auch mein Po hat mir nach 14 Stunden im Rollstuhl ganz schön wehgetan. Trotzdem habe ich bis Mitternacht ausgehalten und Kerstin hat mich dann nach Hause gefahren und ins Bett gebracht. Da ich schon die Nacht vor der Hochzeit nicht geschlafen hatte, war ich auch richtig schön müde und konnte zum Glück ganz gut schlafen!

Die nächsten Wochen waren ziemlich anstrengend und kräftezehrend, denn es standen einige Geburtstage und Events ins Haus. Zunächst feierte am Wochenende nach der Hochzeit Kerstins Freund Olli seinen 40. Geburtstag mit einem Brunch bei ihnen zu Hause. Obwohl ich die meisten Gäste kenne und sie auch alle mehr oder weniger über die ALS Bescheid wissen, bin ich doch immer sehr aufgeregt und unsicher. Mir kann einfach so viel Unerwartetes oder besser Unangenehmes passieren, und weil ich mich häufig nicht selbst aus dieser Situation befreien kann, habe ich eine große Angst davor. ;o( Wenn mich beispielsweise jemand zu stürmisch begrüßt und in den Arm nimmt, fällt mir oft der Kopf in den Nacken und ich bekomme ihn ohne Hilfe auch nicht mehr hoch. Jetzt hänge ich also mit dem Kopf nach hinten abgeklappt in meinem Rollstuhl und kann nur abwarten, ob sich jemand traut mir zu helfen oder ob Kerstin es mitbekommen hat. Mit einem „Feigling“ im Mund und dem Deckel auf der Nase mag diese Position ja okay sein, aber ich kann noch nicht mal mehr sprechen oder atmen. ;o) Aber meinem Kopf passierte zum Glück nichts, dafür hielt mir der Mann einer Freundin von Kerstin freudestrahlend seine Hand hin! Klasse! Auf mein zweimaliges Kopfschütteln zog er irgendwann seine Hand wieder ein und einen kurzen Moment schien er irritiert zu sein. Entweder dachte er „Na gut, dann eben nicht!“ oder er überlegte „Was hat mir meine Frau vorhin über die Frau im Rollstuhl erzählt und was sollte ich nicht machen?“ Jedenfalls nannte er mir auch ohne Hand seinen Namen und verschwand in die Küche. Ich fand ihn nett! Am Nachmittag holten meine Eltern mich ab und wir fuhren zu ihren Freunden auf eine Wahlparty zur Bundestagswahl. Bis zur ersten Hochrechnung sollte jeder tippen, wie viele Prozentpunkte auf die einzelnen Parteien entfallen. Derjenige, der mit seinem Tipp die geringste Abweichung zum inoffiziellen Endergebnis um 20 Uhr hatte, war der Sieger und bekam natürlich eine kleine Deutschland- Flagge überreicht. Und das war ich! Hurra! ;o)

Ein Wochenende später hatte ich meinen 34. Geburtstag und feierte mit meinen engsten Freunden bei mir auf der Terrasse. Obwohl es bereits Ende September war, konnten wir es in der Sonne kaum aushalten. Zum ersten Mal waren tatsächlich alle da und niemand war wegen einer Dienstreise oder dem Oktoberfest in München verhindert! Schön! Kerstin war schon etwas kugelig, denn in zwei Monaten lief der Vertrag zur Untermiete aus und Anton, Luis oder Moritz würde ihr Leben auf den Kopf stellen. Mitte Oktober hatten dann Nina und Kerstin Geburtstag. Natürlich wie immer am selben Tag, so dass ich am späten Vormittag zu Kerstin zum Frühstück gegangen bin und am Nachmittag direkt weiter zu Nina zum Kaffee trinken. Da konnte ich bereits meinen Kopf nicht mehr oben halten, ohne ziemlich starkes Kopfwackeln zu bekommen. Während meine Eltern, Nina und Mirko einen Spaziergang machten, versuchte ich mich auf dem Sofa zu entspannen und meine Nackenmuskulatur zu entlasten. Seit der Hochzeit hatte ich hier zunehmend Probleme und insbesondere das aufrechte Sitzen im Rollstuhl fiel mir unendlich schwer. Wer nicht hören will, muss fühlen! ;o) Ende Oktober wurde meine Mutter 60 und wir schenkten ihr und uns Karten für David Copperfield, der am Abend ihres Geburtstags in Braunschweig auftrat. Und wieder war meine Mutter nicht wirklich glücklich über dieses Geschenk, denn sie wollte eigentlich an ihrem Geburtstag wegfahren und sich einen schönen Tag machen. Toll, so macht Schenken richtig Spaß! Wir haben dann einen Kompromiss gefunden: Sie konnte mit meinem Vater den Tag irgendwo schön verbringen und abends wollten wir uns dann gemeinsam verzaubern lassen. Wahrscheinlich sind mir die ganze Aufregung und der Stress derart auf den Nacken geschlagen, dass ich meinen Kopf überhaupt nicht mehr unter Kontrolle bekam und so schweren Herzens allein zu Hause bleiben musste. ;o( Ich bezweifle, dass ich mich jemals an diese Konsequenz gewöhnen werde. Am nächsten Tag reisten bereits die ersten Verwandten an, denn am folgenden Tag feierte meine Mutter mit etwa 30 Gästen ihren Geburtstag bei uns zu Hause. Meine Pflegekraft Kerstin kam glücklicherweise abends zu mir, so dass ich erst in aller Ruhe die super leckeren Köstlichkeiten des Buffets genießen und danach noch etwas mitfeiern konnte. Langsam hatte ich genug von aufregenden Ereignissen und sehnte mich nach etwas Ruhe und Entspannung. Aber schon einige Tage später stand noch eine Überraschung von Nina und Mirko an, denn sie hatten uns Karten für Atze Schröder geschenkt. Leider musste ich aus dem gleichen Grund verzichten und zu Hause bleiben, wie bei Copperfield. Mein Kopf ist einfach zu schwer für mich. ;o(

Im November war ich sehr viel am Laptop, da ich einer Schülerin bei ihrer Abschlussprüfung zum Thema ALS geholfen habe. Sie hatte im Internet nach Hilfe gesucht und ich habe ihr meine Unterstützung einfach mal angeboten. Anke hat im August 2003 ihren Vater nach nur fünf Monaten an ALS verloren. Weil sie etwas Angst vor den ganzen Gedanken und Gefühlen hatte, die wieder hochkommen würden, haben wir die Hausarbeit gemeinsam geschrieben. Mir hat es Spaß gemacht und Anke war total froh und dankbar. Die Arbeit ist auch wirklich gut geworden und ich war glücklich und stolz, dass ich immer noch für etwas zu gebrauchen bin. ;o) Ich glaube, ich war seit langem mal wieder uneingeschränkt glücklich. Nicht weil die Arbeit gut war und Anke eine tolle Prüfung hatte, nicht weil mich alle gelobt haben und es toll fanden, dass ich Anke geholfen habe, sondern einfach nur, weil ich es trotz allem geschafft habe. Glücklich sein ist aber gar nicht so einfach, wie es sich anhört. Ich habe schon öfter überlegt, ob ich jemals wirklich glücklich war mit mir, oder ob mein Glück nicht doch immer von anderen Dingen wie dem Partner, der Beziehung, dem Erfolg oder der Anerkennung abhing bzw. ich es selber von diesen Faktoren abhängig gemacht habe? Aber vielleicht kann man auch nur mit einem Partner wirklich glücklich werden, wenn man auch allein Glück empfinden kann und mit sich selbst glücklich ist. Vielleicht ist das Geheimnis des Glücks ja, in sich glücklich zu sein! Oder kann man das nicht trennen? Ich sag ja, das Glücklichsein ist eine ziemlich komplizierte Sache. Jetzt, wo mich die ALS zu einer relativ passiven und stark eingeschränkten Lebensführung zwingt, merke ich immer wieder, welche Momente ich am meisten vermisse und welche Dinge wirklich Glück bedeutet haben. Leider habe ich diese Dinge damals nie als besonders großes Glück, sondern als eine völlige Selbstverständlichkeit oder Normalität empfunden. Laufen, sprechen, atmen, Gesundheit im Allgemeinen, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zum Beispiel. Aber auch so kleine Dinge wie mit meinem Hund toben und ihn streicheln zu können, alles sagen zu können, was ich sagen möchte, jemanden in den Arm nehmen zu können oder in den Arm genommen zu werden. Ich vermisse es, weder meinen eigenen Körper noch den anderer Menschen spüren zu können. Ich vermisse es, hingehen zu können wohin ich möchte und wann ich es möchte. Ich vermisse aber nicht mein „altes“ Leben oder die „alte“ Sandra, sondern nur die vielen, zumeist ungenutzten Möglichkeiten. Ich glaube, ich wäre heute ein „besserer“ gesunder Mensch! Schade, dass ich keine Gelegenheit bekomme, mir das selbst zu beweisen. ;o(

Das größte Glück der Welt erfuhren Kerstin und Olli Ende November, als sie Eltern wurden. Der Kleine heißt Moritz, wog bei der Geburt 3820 g, war 56 cm groß und sah aus wie ein kleiner Italiener. ;o) Ich besuchte die Drei gleich am Tag nach Moritz Geburt im Krankenhaus. Kerstin und Olli sahen zwar erschöpft, aber sehr glücklich aus und Moritz ist ihr ganzer Stolz. Ich war total erleichtert und froh meine ganzen Geschenke nun endlich an den Mann bzw. an den Moritz bringen zu können. Ich hatte in den vergangenen Monaten kräftig eingekauft und hoffte, ich hatte mir die richtigen Gedanken gemacht. Das hoffte wahrscheinlich auch meine Mutter, denn in meinem Bad mussten ein paar Umbauarbeiten stattfinden. Ich bekam eine vollkommen barrierefreie Dusche sowie ein höhenverstellbares Waschbecken, das ich bei Bedarf auch bequem mit dem Rollstuhl unterfahren kann. Weil ich bei jedem Toilettengang Wasser am Wasserhahn trinke und dazu meinen Kopf auf dem Waschbecken ablegen muss, war ich skeptisch, ob das mit dem neuen Waschbecken noch möglich ist. Es war nämlich völlig anders geschnitten! Und tatsächlich war es mir nicht mehr möglich, meinen Kopf abzulegen. ;o( Zum Glück fanden wir aber auch hier eine Lösung und ich kann mit Hilfe eines über Eck gelegtes Brettes wie bisher meinen Durst stillen. Darüber hinaus bekam ich ein Blattwendegerät zum Blättern in Büchern und Zeitschriften. Das Umblättern erfolgt über einen mit einer Haftkleberolle versehenen Wendearm, der auch über eine Infrarotbedienung wie die Umfeldsteuerung gesteuert werden kann. Durch leichtes Tasten werden die Blattwendungen ausgelöst. Allerdings ist es mit dem rollbaren Ständer sehr groß und etwas sperrig. Ich werde nie begreifen, warum Hilfsmittel für „Behinderte“ auch immer irgendwie behindert aussehen müssen. ;o(

Über Weihnachten konnte ich endlich mal wieder richtig lange schlafen. Herrlich! Sarah durfte nicht mehr zu mir kommen, da sie zum einen schwanger war und zum anderen erhebliche gesundheitliche Probleme hatte. Und weil Kerstin auch Urlaub hatte, konnte ich ohne Druck schlafen. Plötzlich schlief ich viel besser und ruhiger. Ich schlief schneller ein und wachte deutlich seltener auf. Merkwürdig, dass mich scheinbar schon das Wissen, morgens um halb neun aufstehen zu müssen, derart unter Druck setzt. Aber wenn ich ständig bis zwei oder drei Uhr wach liege, werde ich logischerweise irgendwann ungeduldig und sauer auf mich selbst. Je mehr ich mich ärgere, desto schlechter kann ich einschlafen. Nun konnte ich aber ausschlafen und brauchte mich diesem Druck nicht auszusetzen. Die Ringe unter den Augen verschwanden langsam und auch die starke Tagesmüdigkeit ließ spürbar nach. Ansonsten war Weihnachten wie immer ein wenig stressig. Judy war, nachdem der Postbote geklingelt hatte, mal wieder wie eine Verrückte die Treppe hochgerast und hatte sich dabei so sehr verletzt, dass sie wie ein nasser Sack mitten auf der Treppe liegen blieb. Meine Mutter musste sie die Treppe hochziehen und Judy hüpfte nur noch auf drei Beinen umher. ;o( Der Verdacht auf Kreuzbandriss stand im Raum und so sollte Judy eigentlich am 23. Dezember in der Tierklinik in Magdeburg operiert werden. ;o) Nach der Narkose entschieden die Ärzte anders und operierten nun doch nicht. 200 Euro durfte ich trotzdem bezahlen. Dank Schmerztabletten und Antibiotika ging die Schwellung relativ schnell wieder weg und Judy humpelte nur noch leicht. Ich bin in solchen Momenten immer total traurig, weil ich sie nicht mal streicheln kann, um ihr zu zeigen, wie lieb ich sie habe. Ich hoffe, dass sie spürt, wie viel sie mir bedeutet. Sie ist mein größtes Glück und ich würde alles dafür geben, einmal ihre Zuneigung und ihre Freude spüren zu können. Weil ich sie schon lange nicht mehr streicheln, geschweige denn mit ihr toben, Gassi gehen oder Fußball spielen kann, bin ich oft Luft für sie. Das verletzt mich sehr und tut doppelt weh, wenn ich sehe, wie sie mit allen anderen voller Hingabe schmust. Es ist unendlich schwer, in seinem eigenen Leben immer nur Zuschauer sein zu können! ;o( Zu Weihnachten selbst waren Nina und Mirko bei uns, meine Tante und meine Oma. Natürlich haben wir uns gegenseitig wie wild beschenkt und haben viel und lecker gegessen. Silvester war dagegen ziemlich trostlos, traurig und einsam. Ich war mit Judy allein zu Hause, habe viel nachgedacht und etwas ferngesehen. Kein besonders schöner Start ins neue Jahr, aber so kann das Jahr wenigstens nur noch besser werden! ;o)

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