Meine Geschichte 2002

2002

Bereits im letzten Jahr hatte meine Freundin Kerstin erfahren, dass die Redaktion von „Fliege“ im Januar eine Sendung über schwere und seltene neurologische Erkrankungen plant und daher natürlich auch großes Interesse am Thema ALS hat. Sie nahm Kontakt mit der Redakteurin auf und fragte mich kurz darauf, ob ich nicht Lust hätte, als Gast dort aufzutreten. Ich im Fernsehen? Schon bei dem bloßen Gedanken wurde mir ganz anders. :o) Mein Zustand war ja nicht gerade telegen. Die Vorstellung, körperlich eingeschränkt und mit undeutlicher Aussprache “vorgeführt“ zu werden, war fürchterlich für mich. Zudem war die Sendung von Jürgen Fliege nicht unbedingt das Format, das mir zusagte. Auch Stefan war alles andere als begeistert und erklärte sofort, dass er auf gar keinen Fall sein Privatleben öffentlich im Fernsehen ausbreiten wird. Ohne ihn, war es für mich natürlich noch unvorstellbarer, den enormen Stress – Flug nach München, Übernachtung im Hotel, Aufzeichnung der Sendung und anstrengende Rückreise – auf mich zu nehmen. Meine Familie und Kerstin waren einfach zu weit entfernt, um richtig einschätzen zu können, was diese Stresssituationen für mich bedeuten und wie sie sich möglicherweise auswirken könnten. Ich überlegte tagelang hin und her und entschied mich schließlich, nicht nach München zu fliegen. :o( Kerstin war bestimmt etwas enttäuscht, aber ich war mittlerweile schon viel entschlossener als früher und sorgte mich nicht mehr so sehr darum, was andere Menschen eventuell von mir erwarten könnten. Durch den Kontakt mit der Fliege-Redaktion hatte Kerstin jedoch die Information bekommen, dass auch Prof. Roman Haberl, Chefarzt der Abteilung Neurologie am Krankenhaus München-Harlaching, zur Sendung eingeladen worden war. Er behandelte den Fußballer Markus Babbel, der nach seiner Erkrankung am Pfeifferschen Drüsenfieber plötzlich motorische Probleme bekam, nicht mehr richtig laufen und sprechen konnte, Lähmungen hatte und im Rollstuhl saß. Prof. Haberl diagnostizierte bei ihm das Guillain-Barré-Syndrom (GBS). Das ist eine seltene Erkrankung der peripheren Nerven. Charakteristisch beginnt es einige Tage oder Wochen nach einer Infektion mit allgemeiner Schwäche, zunehmenden Empfindungsstörungen und Lähmungserscheinungen in Beinen und Armen. Die meisten Patienten – wie auch Markus Babbel – können zwar gesundheitlich wieder völlig hergestellt werden, das kann jedoch Monate oder Jahre dauern. Kerstin bemühte sich sofort hartnäckig um einen Termin bei Prof. Haberl für mich, um ein GBS auszuschließen und eine weitere Meinung zur Diagnose ALS einzuholen.

Also flog ich nicht im Januar mit einem Flugzeug zu Jürgen Fliege nach München sondern im Februar in Stefans BMW zu Prof. Haberl. :o) Wie immer, wenn wir in Bayern waren, wohnten wir bei Theresa und Tom im Hotel “Zur Post“ in Rohrdorf. Am nächsten Morgen mussten wir sehr früh aufstehen, um den Termin bei Prof. Haberl pünktlich um halb zehn einhalten zu können. Das Wetter war an diesem Tag mehr als schlecht, es schüttete, stürmte und Blitz und Donner wechselten sich ab. In München suchten wir im strömenden Regen vergeblich einen Parkplatz in der Nähe der Klinik und parkten schließlich völlig entnervt auf dem einzig freien Parkplatz für Rollstuhlfahrer direkt vor dem Klinikgelände. Warum auch nicht – schließlich war ich Rollstuhlfahrerin, auch wenn wir den Parkausweis in der Hektik natürlich im Hotel vergessen hatten und deshalb nur den Schwerbehinderten-Ausweis mit den entsprechenden Kennzeichen hinter die Windschutzscheibe legen konnten. Die Mitarbeiter der neurologischen Ambulanz waren trotz unserer Verspätung sehr freundlich, hilfsbereit und professionell. Einer der Ärzte hörte sich meine Krankengeschichte an und untersuchte mich anschließend hinsichtlich meiner Kraft und Koordinationsfähigkeit, meines Gangbildes und machte spezielle Muskeltests. Danach nahm die Oberärztin einige Untersuchungen vor. Sie machte eine Nervenleitgeschwindigkeitsmessung zur Feststellung der Reaktionsgeschwindigkeit von Nerven und Muskeln auf kleine Stromschläge. Beim anschließenden EMG wurde eine Nadel nacheinander tief in verschiedene Muskeln gesteckt – in Zunge, Hals, Schulter, Oberarm, Unterarm, Hand, Oberschenkel, Schienbein und Wade. Dabei wurde erst im entspannten und dann im angespannten Zustand – aua, aua, aua – die Muskelaktivität, die Entladungsrate bzw. Potentiale gemessen, um daraus Rückschlüsse auf die Schädigung peripherer Nervenstrukturen ziehen zu können. Aufgrund des klinischen Befunds und der Ergebnisse der Untersuchungen kamen die Ärzte leider zum selben Ergebnis – ich hatte auch ihrer Meinung nach ALS! :o( Allerdings fehlten noch zwei Untersuchungsergebnisse meines Blutes, die bisher noch nicht bei mir gemacht worden waren, und auch die Ergebnisse eine molekularbiologische Untersuchung auf das Kennedy-Syndrom standen noch nicht fest. Diese Fälle waren allerdings so selten, dass sie auch Prof. Haberl bisher nur aus der Literatur kannte. Um vier waren wir endlich fertig und kämpften uns voll beladen mit meiner Tasche, Stefans Rucksack, sämtlichen Unterlagen, einem Ordner und einem riesigen Schirm durch Regen und Sturm. Gar nicht so einfach – ich hätte mir zu Weihnachten lieber einen dritten Arm wünschen sollen! :o) Am Parkplatz angekommen waren wir nicht nur beide klitschnass sondern auch unser Auto weg! Abgeschleppt! :o( Also mussten wir erneut durch den Sturm zurück zur Klinik. Stefan rief ziemlich genervt bei der Polizei bzw. Verwahrstelle an, bestellte anschließend ein Taxi und für 30 Euro wurden wir etwas später quer durch München gefahren, um am anderen Ende der Stadt für 170 Euro unser Auto wieder auslösen zu können. Ich war nass, völlig erledigt und erschöpft, aber Stefan platzte fast vor Wut! Zusammen mit dem noch folgenden Strafzettel wegen unberechtigtem – also ohne entsprechenden Parkausweis – Parken auf einem Behindertenparkplatz kostete uns dieser kleine Ausflug nach München 350 Euro und zwei Punkte in Flensburg. Toll!

Das Wetter im Februar war – zumindest bei uns – super schön. Es war warm wie im Frühling und wir frühstückten am Wochenende immer in der Sonne draußen auf dem Balkon. Herrlich! Wenn die Sonne schien, war es fast unmöglich auf schlechte Gedanken zu kommen. Wenn der Himmel so nah war und keine störenden Wolken meine Bitten aufhalten konnten, wünschte ich mir immer, der Liebe Gott möge gerade Zeit und ein offenes Ohr haben. Naja, offenbar war er ein sehr beschäftigter Mann! :o) Meine Sicherheit beim Laufen ließ nämlich zunehmend nach. Die Beine waren zwar noch kräftig, aber ich hatte trotzdem große Probleme einen sicheren Stand zu finden. Die geringste Unachtsamkeit brachte mich schon aus dem Gleichgewicht und wenn es beispielsweise draußen ein bisschen windig war, wurde ich regelrecht weggepustet. Inzwischen fuhr mich Agnes täglich zur Physio- bzw. Ergotherapie. Der Aufwand und die Kraftanstrengung, um in die Praxis zu kommen, wurden für mich jedoch immer größer. Zunächst musste ich mich zu Hause umziehen bzw. Jacke und Schuhe anziehen, dann vorsichtig die Treppe runtergehen. Unten angekommen, hieß es unfallfrei ins Auto einzusteigen und vor der Praxis mit Agnes Unterstützung wieder auszusteigen. Anschließend musste ich langsam mit Hilfe des Geländers die Stufen zur Physiotherapie-Praxis erklimmen, im Behandlungszimmer die meisten meiner Klamotten ausziehen, um eine optimale Vojta-Behandlung zu ermöglichen. Nach der Therapie ging natürlich alles – nur anders herum – wieder von vorn los. Erst anziehen, erneut sturzfrei die Stufen runtergehen und in Agnes Auto einsteigen. Während der Fahrtzeit versuchte ich mich zu erholen und Kraft zu schöpfen fürs Aussteigen, Erklimmen der steilen Treppe unseres Hausflurs und wiederholtes Ausziehen bzw. Umziehen zu Hause. Puh, was für ein Kraftakt für ein paar Minuten Therapie! Eva und mir fiel auf, dass die Therapieergebnisse mit zunehmender Anstrengung deutlich schwächer ausfielen. Daher vereinbarte ich mit allen Therapeutinnen ab sofort Hausbesuche. Auch beim Waschen hatte ich Schwierigkeiten. Während ich meinen Körper und mein Gesicht noch selbstständig waschen konnte, bekam ich zum Waschen, Fönen oder Stylen der Haare meine Arme nicht mehr hoch genug. Zunächst half Stefan mir. Er wusch mir die Haare, kämmte und fönte sie nach meinen Anweisungen und machte mir sogar Zöpfe oder einen Pferdeschwanz. Dabei gerieten wir jedoch häufiger aneinander, weil Stefan – wie er richtigerweise immer wieder betonte – natürlich kein zweiter Udo Walz war. :o) Deshalb fragte ich meine Friseurin Stefanie, ob sie eventuell drei Mal pro Woche morgens zum Haare waschen und fönen bei mir vorbei kommen würde. So verlor ich in immer mehr Bereichen meine Selbstständigkeit und musste mich wohl langsam daran gewöhnen, in Zukunft auch die Hilfe fremder Menschen annehmen zu müssen. Warum war der Gedanke daran nur so schwer zu ertragen?

Als meine Eltern Anfang März mal wieder zu Besuch bei uns waren kam erneut das Thema Pflege auf. Wir diskutierten darüber, wie es weiter gehen soll und kann. Ich hatte keine Ahnung! Ich hatte aber Panik, dass so eine Pflegekraft ständig in meiner Nähe ist, an mir rum fummelt und mir eventuell auch die Dinge abnimmt, die ich eigentlich noch selbst erledigen könnte. Ich fühlte mich schließlich jetzt schon überflüssig genug! :o( Im Grunde konnte ich die meisten Dinge auch noch allein bewältigen, es dauerte eben nur alles länger und sah anders, umständlicher oder anstrengender aus als bei einem gesunden Menschen. Ich fand es ziemlich unfair, mir bestimmte Handgriffe erst gegen meinen Willen abzunehmen und mir danach vorzuwerfen, ich sei unter anderem auch wegen dieser Aufgaben eine Belastung für Stefan. Aber schließlich gab ich irgendwann nach, denn ich erkannte natürlich das Problem bzw. Dilemma in dem er steckte. Aus Sorge um meine Sicherheit und Angst, meinen Krankheitsverlauf durch eine Überanstrengung unnötig zu beschleunigen, wollte er mich so viel entlasten wie möglich. Gleichzeitig musste er aber auch im Job Gas geben, 100%-igen Einsatz und Engagement zeigen, um auf der Karriereleiter höher klettern zu können. Auf Dauer konnte er diese Doppelbelastung nicht aushalten – weder körperlich noch seelisch. Stefan brauchte Urlaub – Urlaub von mir! :o( Wir vereinbarten, dass ich häufiger als bisher zu meinen Eltern nach Wolfsburg fahren sollte, damit Stefan für ein paar Tage entlastet war, sich nur um sich kümmern konnte. Ich fühlte mich zwar schrecklich bei dem Gedanken, eine Belastung zu sein von der man Urlaub brauchte, aber wahrscheinlich musste ich mich zukünftig wohl oder übel an diesen Gedanken gewöhnen. An diesem Wochenende stellten wir auch einen Pflegeantrag zur Festlegung der Pflegestufe. Hurra! :o( Kurze Zeit später kam eine Mitarbeiterin des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) zur Begutachtung und Feststellung der Pflegebedürftigkeit bei uns zu Hause vorbei. Bei diesem Besuch wurde geprüft, ob bei mir die Voraussetzungen für die Leistungen aus der Pflegeversicherung erfüllt sind und welche Pflegestufe mir zugeordnet werden kann. Ich musste zeigen, was ich noch wie gut oder eben schlecht konnte – laufen, aufstehen, hinsetzen, Arme heben, Schuhe anziehen usw. Ich kam mir total blöd vor! Ich musste wie im Zirkus auf Kommando mein Können zeigen, und damit auch mir selbst noch einmal ganz deutlich vor Augen führen, was ich mittlerweile schon alles nicht mehr konnte. Und das alles um etwas zu bekommen, was ich eigentlich gar nicht haben wollte. Ich gab wirklich mein Bestes und bekam trotzdem Pflegestufe I. :o((

Im April feierte mein Cousin Yannick seine Konfirmation und das war seit meiner Erkrankung das dritte Aufeinandertreffen mit der kompletten Verwandtschaft. Mir war wie immer etwas mulmig zumute. Im Gegensatz zur Hochzeit von Thomas und Anne reiste ich dieses Mal mit einem Rollstuhl an und war nicht sicher, wie sie damit umgehen würden. Anscheinend hatte meine Mutter aber bereits alle vorgewarnt und gebrieft, mich nicht allzu stürmisch zu begrüßen. Ich fühlte mich trotzdem unwohl, plötzlich war ich wieder kleiner als meine kleine Omi! :o) Das ging ja gar nicht! Ich erteilte erstmal allen ein absolutes Fotografierverbot für das Motiv „Sandra im Rollstuhl“ und stand so oft wie möglich auf. Ich werde mich nie, nie, niemals an diese Position, an diese Perspektive und an den Umstand geschoben zu werden gewöhnen. An diesem Tag erzählte uns mein Cousin Thomas, dass er von einem Handball-Kollegen erfahren hatte, das dessen Freund in der Schweiz ebenfalls vor Kurzem die Diagnose ALS erhalten hatte. Weil Dirk und ich im gleichen Alter waren, war ich einverstanden, mich eventuell mit ihm auszutauschen, sofern auch er Interesse daran hätte. Bisher hatte ich es weitgehend vermieden, Kontakt zu anderen Betroffenen aufzunehmen oder zu Treffen von Selbsthilfegruppen zu gehen. Vermutlich aus Angst bei Betroffenen in fortgeschritteneren Stadien der ALS Dinge zu sehen, die ich noch nicht bereit war zu sehen oder die ich nicht sehen wollte. Ich war nicht stark genug, um diesen Blick in die Zukunft zu wagen. Gleichzeitig wusste ich natürlich, dass mir andere Betroffene in vielen Bereichen sehr hätten helfen können, aber ich konnte und wollte es einfach nicht. Ein paar Tage später bekam ich die E-Mail-Adresse von Dirk und wir schrieben uns ein paar Mal. Er stand noch ganz am Anfang der ALS. Dirk war überzeugt, dass die Erkrankung an ALS seine Beziehung nicht zerstören könne. Er wollte unbedingt so lange wie möglich arbeiten und dachte darüber nach, in der Schweiz eine Stiftung für ALS ins Leben zu rufen. Er war voller Energie und Tatendrang. Ich bewunderte ihn sehr für sein Engagement und seinen großen Willen etwas für andere zu bewegen. Leider verloren wir den Kontakt wieder, aber ich ließ mich von seinem Optimismus anstecken und hoffte, dass Stefan und ich gemeinsam vielleicht auch irgendwann etwas Positives für die Bekanntheit von ALS oder für andere Betroffene tun könnten.

Doch leider hatte ich die großen Belastungen und Schwierigkeiten für eine Partnerschaft unterschätzt, die meine Erkrankung mit sich brachte – und Stefan auch. Die bestehenden Probleme wurden immer größer. Stefan war unzufrieden, weil er – seiner Meinung nach – zu viel mit mir bzw. für mich erledigen musste und ich war unzufrieden, weil ich – meiner Meinung nach – zu wenig von ihm hatte. Ich war natürlich sehr dankbar, ihn überhaupt an meiner Seite zu haben, mit ihm gemeinsam kämpfen zu können. Als ich meine Diagnose erhielt, hatte ich Stefan gesagt, dass er nicht bei mir bleiben müsse, wenn er nicht wolle. Aber er hatte sich damals ganz bewusst entschieden mir beizustehen. Gleichzeitig war mir auch bewusst, dass er meinetwegen auf vieles verzichten musste, dass er Pläne geändert oder gar aufgegeben hatte und sein Leben sicherlich ganz anders verlief, als er es sich vorgestellt hatte. ;o( Manchmal dachte ich darüber nach, ob ich mich nicht von Stefan trennen sollte. Im Moment zerstörte meine Erkrankung ja in gewisser Weise unser beider Zukunft. Er hätte so wenigstens noch die Chance auf ein neues, sorgenfreies und schönes Leben. Mir würde es vielleicht schon nichts mehr ausmachen, wenn ich ihn verlieren würde, denn ich hatte schon so viel verloren und aufgeben müssen, dass dieser Verlust vielleicht kaum mehr wehtun würde. Andererseits könnte natürlich jeder weitere Verlust umso schwerer wiegen, weil das Wenige, was ich noch habe, umso wertvoller ist. Ich wusste, ich brauche Stefan. Er war meine Kraftquelle, mein Weg, mein Ziel, mein Antriebsrad. Er brachte mich zum Lachen, aber auch zum Weinen, er kannte mich gut und doch verstand er mich oft nicht, er hatte mich geliebt und konnte mich andererseits manchmal kaum ertragen.

Im April teilte mir Stefan eines Abends mit, dass er nicht mehr kann und er sich auch ein weiteres Zusammenleben in unserer Wohnung nicht mehr vorstellen kann. Für mich brach eine Welt zusammen und ich habe tagelang nur geweint. ;o( Ich bin Stefan aber auch sehr dankbar für alles. Er hat mehr für mich getan, als ich jemals hätte erwarten können. Aber nun konnte Stefan die alleinige Verantwortung für meine Sicherheit und die Doppelbelastung durch Job und Hilfe für mich nicht länger tragen. Daher hatte er mich um diese räumliche Trennung gebeten. Mir blieb keine andere Wahl, als zurück zu meinen Eltern nach Wolfsburg zu ziehen, die mich zum Glück wieder bei sich aufnehmen konnten und wollten. Stefan wollte Judy und mich aber so oft wie möglich am Wochenende besuchen kommen. Es brach uns beiden zwar das Herz, aber wahrscheinlich war es für ihn besser und leichter so. Meine Eltern bauten im Sommer eine Ebene im Haus für mich um und ich bekam meinen eigenen Bereich, bestehend aus einem Wohn- und Essbereich mit einer kleinen Küchenzeile, Schlafzimmer und einem großen Bad. Außerdem bekam ich einen eigenen Eingang und eine große Terrasse mit einem rollstuhlgeeigneten Weg rund ums Haus. Meine neues „altes“ Zu Hause war wirklich sehr schön geworden und ich war meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie mich wieder bei sich aufnehmen und trotz der großen Belastung derart unterstützen wollten. Nur konnte ich mich in dem Moment noch nicht so richtig darüber freuen! Schließlich rappelte ich mich auf und stürzte mich in die Planung meines Umzugs. Not macht ja bekanntlich erfinderisch und so gelang es mir, durch einen kleinen Trick wieder einen Stift halten zu können. Über Wochen zeichnete ich sämtliche Pläne für die Inneneinrichtung meiner Wohnung, legte fest, wo Lampen, Steckdosen und Lichtschalter gebraucht werden und welche Farben an die Wände kommen. Ich suchte im Internet nach geeigneten Möbeln und erstellte Listen mit allen Dingen, die mit mir umziehen müssen. Außerdem machte ich mir Gedanken und Pläne, welche Sachen ich am besten in welchem Schrank, Regal oder in welcher Schublade verstauen könnte. Ich fühlte mich von Tag zu Tag besser. Endlich hatte ich wieder eine Aufgabe und konnte seit Wochen mal etwas wirklich Sinnvolles tun. Das war ein super schönes Gefühl! ;o)

In dieser Hochstimmung ertrug ich sogar den Gedanken, in den Urlaub mit meinen Eltern zum ersten Mal meinen eigenen Rollstuhl mitnehmen zu müssen. Es war jedoch unglaublich schwer ein geeignetes Hotel zu finden. Dank meiner Freundin Kerstin fanden wir dann am Faaker See in Österreich ein sehr kleines, familiäres Hotel, in dem auch Menschen mit Handicap und Hunde willkommen waren. Wir fühlten uns dort alle vom ersten bis zum letzten Tag sehr wohl. Meiner großen Angst, erneut all den fragenden Blicken der Gäste ausgesetzt zu sein, begegnete ich dieses Mal offensiv. Ich schrieb einen Brief, in dem ich meine Situation kurz erklärte. Die Inhaber des Hotels waren so nett, diesen Brief an alle Gäste zu verteilen.

 

Hallo liebe Gäste!

Mein Name ist Sandra Schadek und ich möchte Ihnen ein paar Dinge mitteilen und erklären. Bitte lesen Sie diese Zeilen, mir ist sehr viel daran gelegen.

Vor etwa drei Jahren war ich noch ein ganz normaler Mensch. Ich studierte Wirtschaftswissenschaften und schrieb an meiner Diplomarbeit, ich gab Aerobic-Stunden, trainierte täglich, fuhr Mountainbike, ging shoppen, tanzen und ins Kino, traf Freunde, quasselte viel und war gerade frisch verliebt. Kurz gesagt, es ging mir richtig gut. Dann aber bekam ich diese merkwürdigen Symptome, meine Muskeln zuckten oder verkrampften sich spontan, ich hatte nach und nach Probleme bei manchen Handgriffen und Bewegungen, beim Laufen und auch beim Sprechen. Nach einem Krankenhausaufenthalt bekam ich vor ca. zwei Jahren die Diagnose einer Amyotrophen Lateralsklerose (kurz: ALS). Über diese unheilbare, chronische Erkrankung des motorischen Nervensystems ist bisher nur sehr wenig bekannt, insbesondere hinsichtlich möglicher Ursachen, Abläufe und Therapiemöglichkeiten. Diese Erkrankung trat bisher meist erst ab dem 50. Lebensjahr auf, jedoch erkranken in den letzten Jahren auch zunehmend jüngere Menschen. Einfach gesprochen werden die motorischen Nervenzellen (und nur diese) unwiederbringlich zerstört. Nach und nach sind davon immer mehr motorische Körperfunktionen betroffen, bis diese schließlich irgendwann ganz ausfallen, d.h. die entsprechenden Muskeln vollkommen gelähmt sind.
Diese Zerstörung kann sehr schnell (innerhalb weniger Monate), aber auch eher langsam (über mehrere Jahre) erfolgen und sie kann mit der Zeit generell in fast allen Bereichen des Körpers einsetzen. Daher ist der Verlauf einer ALS sehr individuell. Glücklicherweise scheint die Krankheit bei mir langsamer voranzuschreiten und ich bin erst seit einigen Monaten auf verschiedene Hilfsmittel (z.B. Rollstuhl oder Gehwagen) angewiesen. Ich kann zwar noch gehen, jedoch ist mein Gang sehr unsicher, wackelig und steif. Ebenso hat die Kraft in beiden Armen und Händen stark nachgelassen, so dass ich manche Dinge leider nicht mehr allein schaffe (u.a. mit dem Messer schneiden, Knöpfe und Reißverschlüsse öffnen, an- und ausziehen, aufstehen und hinsetzen, eincremen etc.). Leider haben sich auch meine Stimme, meine Sprache und meine Gestik beim Sprechen verändert. Auch wenn ich langsam, verwaschen und eher undeutlich rede, sind meine Gedanken nach wie vor sehr klar, schnell und vielseitig. Kein Grund also in irgendeiner Weise Rücksicht auf mich zu nehmen. Da auch meine Zunge, mein Gaumensegel und die Schluckmotorik betroffen sind, habe ich manchmal beim Essen Probleme. Ich kaue vielleicht etwas anders, schlucke öfter oder lauter, verschlucke mich oder huste ab und zu stark. Ich möchte Sie bitten, all diese Dinge nicht als Unhöflichkeit oder schlechtes Benehmen meinerseits zu verstehen. Sie können sicher sein, dass mir jedes ungewohnte Geräusch oder Verhalten unangenehmer und peinlicher ist, als es Ihnen jemals sein kann. Wenn Sie sich mir gegenüber so normal wie möglich verhalten, ist das für mich die größte Hilfe. Scheuen Sie sich jedoch nicht zu fragen, wenn Sie irgendetwas wissen möchten. Ebenso sind wir für jede Info, jeden Tipp bezüglich möglicher Therapien, alternativer Behandlungsmethoden oder Ärzten dankbar.

 

Viele Gäste sprachen uns daraufhin an und erkundigten sich nach meiner Erkrankung. Die meisten hatten noch nie von ALS gehört und waren sehr interessiert. Ich war wirklich erleichtert und froh, ein Problem weniger zu haben und konnte nun den Urlaub in vollen Zügen genießen. Judy hat der Urlaub in den Bergen auch sehr gefallen. Immer wenn wir oben auf einer Alm waren, sprang sie wie ein Flummi durch das hohe Gras und wollte gar nicht mehr ins Auto zurück. Außerdem konnte der junge Dalmatiner der Familie des Hotels Judy endlich klarmachen, was ein Hund normalerweise tut, wenn jemand einen Ball wegschießt. Bisher hatte sie einem Ball immer nur völlig verständnislos hinterhergeschaut und Stefan ist gelaufen, um ihn wiederzuholen. ;o) Aber seit diesem Urlaub habe ich praktisch die Weltfußballerin des Jahres in meinem Garten! Verrückter Hund!

Nach dem Urlaub stand ein besonders schönes, aber auch wieder sehr anstrengendes Ereignis bevor. Meine Freundin Sandra und ihr Freund Sebastian heirateten. Sandra kenne ich schon sehr lange, und obwohl wir uns in den letzten Jahren nicht allzu oft gesehen haben, sind unsere Treffen immer sehr vertraut und unkompliziert. Sie ist mir sehr nah und ich habe nie das Gefühl, als hätten wir uns lange nicht gesehen. Da sie schon lange in Hamburg lebt und Sebastian dort kennen gelernt hat, fand die Hochzeit in Travemünde statt. Leider standen Stefan und ich bei der Trauung noch im Stau, aber die Party direkt am Strand war sehr schön. In den Tagen danach beendete ich meine Pläne für den anstehenden Umzug und im Oktober zog ich schließlich um. Ich hatte große Angst vor dem Umzug und den damit verbundenen Veränderungen. Zum einen wusste ich nicht, ob unsere ohnehin schon schwierige Beziehung diese zusätzliche Distanz überstehen kann. An einen Abschied auf Raten konnte und wollte ich aber einfach nicht glauben. Zum anderen hatte ich große Bedenken, ob ich nach über acht Jahren auf eigenen Füßen wieder einigermaßen konfliktfrei mit meinen Eltern unter einem Dach leben kann…falls so etwas überhaupt möglich ist!? ;o) Wir haben zwar ein sehr gutes Verhältnis, aber es ist sicher problematisch, abhängig wie ein Kind zu sein und dennoch wie ein Erwachsener behandelt werden zu wollen. Ein weiteres Problem war natürlich auch der mögliche Verlust unserer Freunde und meiner lieben Therapeuten. Durch meine plötzliche Erkrankung waren wir richtig zusammengewachsen und besonders Stefans Mutter Agnes sowie meine Therapeutinnen Eva und Melanie lagen mir sehr am Herz. Am Tag des Abschieds heulten wir alle Rotz und Wasser. Wir wussten, dass es schwierig werden würde unsere Freundschaft weiterhin zu pflegen, wenn ich zunehmend die Fähigkeit zur Kommunikation verliere. ;o( In meinem Herzen hat aber jeder einzelne seinen Platz und ist so immer in meiner Nähe.

In Wolfsburg galt meine ganze Energie und Aufmerksamkeit zunächst der Einrichtung und Ordnung meiner Wohnung. Es war für mich sehr anstrengend, allen Helfern lediglich Anweisungen zu geben ohne selbst eingreifen zu können und gleichzeitig die Übersicht zu behalten. Ich musste mir schließlich genau einprägen, was sich in welcher Schublade, in welchem Schrank oder Regal befindet und welche Klamotten auf dem wievielten Bügel von links oder rechts hängen. Schließlich bin ich ja permanent auf die Hilfe anderer angewiesen und muss ihnen exakt sagen können, wo sich die Hose oder das Shirt befindet, das ich anziehen möchte. Auch Geschirr, Bücher, CDs oder DVDs sind geordnet und müssen immer an den gleichen Platz zurück, damit ich sie beim nächsten Mal wiederfinde. Außenstehende denken bestimmt oft, ich bin total pedantisch, aber für mich bedeutet diese Ordnung immerhin noch eine indirekte Selbständigkeit. Ich hasse wirklich nichts mehr, als gezwungenermaßen vom Sofa aus andere dirigieren zu müssen und auf meine Bitte etwas zu holen, die Antwort zu bekommen: „Sandra, da ist es nicht!“. ;o( Für langes Suchen hat nämlich meistens niemand Lust noch Zeit. Und weil ich häufig nicht mehr selbst nachsehen kann, habe ich wieder das Nachsehen und muss mich wohl oder übel damit zufrieden geben, etwas anderes anziehen oder eine andere CD hören zu müssen. Diese ewige Abhängigkeit und Hilflosigkeit ist einfach ätzend!

Nachdem meine Wohnung soweit eingerichtet war, konnte ich mich der nächsten großen Aufgabe widmen. Ich musste mir neue Therapeuten suchen. Wir haben schnell einige junge Therapeuten gefunden, die auch Hausbesuche machen. Das Merkwürdige war, dass ich alle Therapeuten mehr oder weniger noch von früher kannte. Meine Physiotherapeutin Andrea war auf derselben Schule wie ich, wenn auch ein paar Jahrgänge über mir. Die Ergotherapie wollte ursprünglich Celine übernehmen, weil wir aber im selben Abi-Jahrgang waren, fiel es ihr anfangs wohl sehr schwer mich persönlich zu behandeln. Deshalb schickte sie ihre Mitarbeiterin Katja zu mir. Im Laufe der Zeit kam aber auch Celine hin und wieder zur Therapie und wir lernten uns immer besser kennen. ;o) Celines Mutter übernahm die Logopädie. Außerdem hatte Heiko Wehe von meiner Erkrankung erfahren. Heiko besitzt mittlerweile mehrere ambulante Reha-Zentren im In- und Ausland. Ich lernte ihn kennen, als er gerade das erste Zentrum eröffnet hatte. Ich war nach der Operation eines Bänderrisses eine der ersten Patienten und wir haben oft vor der Therapie gemeinsam gefrühstückt. Wir haben uns super verstanden und mein Bänderriss ist damals bestimmt nur deshalb so gut verheilt, weil wir immer so viel Spaß bei der Therapie hatten! ;o) Jedenfalls bot Heiko sofort an, mir jede Therapie kostenlos zur Verfügung zu stellen. Darüber habe ich mich wirklich sehr gefreut! Er kam kurz darauf mit einem Mitarbeiter zu mir, um zu besprechen, welche Art der Therapie ich bekommen sollte. Seitdem kommt Normen jede Woche zur Behandlung zu mir. Zum Glück verstehe ich mich mit allen Therapeuten super und wir haben seit dem ersten Tag immer viel Spaß bei der Therapie. Vielen Dank dafür!

Aber bevor wir so richtig loslegen konnten, musste ich mir erst noch mal den Fußboden aus der Nähe angucken. ;o) Dieses Mal war ich mit meinem Gehwagen gestürzt und hatte mir den rechten Oberarm gebrochen. Leider lag ich derartig verdreht mitten in meinem Müsli, das eigentlich mein Frühstück werden sollte, dass ich mein Handy nicht erreichen konnte. Also wartete ich gezwungenermaßen, bis meine Mutter mittags von der Arbeit kam. Im Krankenhaus erfuhr ich, dass ich einen schönen, glatten Bruch fabriziert hatte, der glücklicherweise wiederum nicht operiert werden musste. Allerdings bekam ich eine ähnliche „Ganzkörper-Armschlinge“ verpasst wie beim letzten Mal und mein Arm verfärbte sich in den nächsten Wochen in allen Farben des Regenbogens. Stefan nannte mich nur noch „Quax der Bruchpilot“. ;o) Für Mitleid war jedoch keine Zeit, denn in Wolfsburg waren mit Hilfe meiner Schwester Nina einige Benefiz-Veranstaltungen für mich organisiert worden. Der Lions-Club unterstützt alle zwei Jahre mit seiner Aktion „Wolfsburger bewegen“ schwer erkrankte oder hilfsbedürftige Menschen. Drei bekannte Sportler aus Wolfsburg bieten verschiedene sportliche Aktivitäten an, an denen jeder gegen ein „Startgeld“ von 5 Euro teilnehmen kann. Tatsächlich kamen viele Menschen, um sich für den guten Zweck durch den Wald scheuchen zu lassen. ;o) Das Fitnesscenter SFC, in dem ich lange gearbeitet hatte, veranstaltete kurz darauf einen Aerobic- und Spinning-Marathon. Einen ganzen Tag konnte jeder nonstop an Aerobicstunden und anderen Kursen teilnehmen oder sich auf dem Spinningrad die Seele aus dem Leib strampeln. Auch hier sollte jeder Teilnehmer ein paar Euro spenden. Wie bei der ersten Aktion kamen wieder unglaublich viele Menschen um zu helfen. Viele kannte ich natürlich noch von früher und war von ihrer Anteilnahme und Hilfsbereitschaft sehr gerührt.

Die dritte Veranstaltung hatte der Eishockey-Club EHC Wolfsburg organisiert. Aktive und ehemalige Eishockey-Profis traten gegen Spieler des Fußball-Bundesligisten VfL Wolfsburg an. Die Eishalle war brechend voll und ich traf auch hier wieder viele Leute, die ich noch von früher kannte. Nachdem die Organisatoren die Zuschauer begrüßt und die Spieler einzeln vorgestellt hatten, schob Nina auch mich mit meinem Rolli aufs Eis. Unser stellvertretender Bürgermeister stellte mich, mein Leben und meine Krankengeschichte den Zuschauern vor und ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht zu weinen. ;o( Es war total merkwürdig, mit meinem eigenen Schicksal verbal konfrontiert zu werden. Ich hatte eher das Gefühl, die traurige und sehr bewegende Geschichte einer anderen Frau zu hören. Doch dann passierte etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte und mir wurde schnell klar, dass es sich durchaus um mein eigenes Leben handelte. 1990 lernte ich nämlich meinen damaligen Freund Wolfgang kennen. Er kam aus Sonthofen und spielte damals als Eishockey-Profi beim EHC Wolfsburg. Und plötzlich stand er in voller Montur neben mir auf dem Eis und grinste mich breit an! Ich war froh, dass ich in dem Moment mein eigenes Gesicht nicht sehen konnte. ;o) Nach und nach erkannte ich auch noch einige andere Spieler von damals und sie kamen zu mir, um mich zu begrüßen. Ich habe mich riesig gefreut, sie alle wieder zu sehen und war sehr gerührt, dass sie alle gekommen waren. Das Spiel war ein großer Spaß! Einige der Fußballer konnten nämlich weder vernünftig Schlittschuh laufen noch bremsen oder die Richtung ändern, geschweige denn den Puck mit dem Schläger irgendwie annehmen oder abspielen. Trotz heftiger Ruderbewegungen mit den Armen waren spektakuläre Stürze unvermeidbar. ;o) Ich saß in meinem Rolli direkt hinter der Bande und neben mir saß der ebenfalls an ALS erkrankte Fußballer Krzysztof Nowak. Wir konnten uns bei dem Lärm zwar nicht unterhalten, aber wir verstanden uns auch ohne Worte. Immer wenn wir uns ansahen, mussten wir wieder lachen, bis uns die Tränen kamen. Für ihn war es bestimmt noch lustiger, seine ehemaligen Kollegen so unsicher auf dem Eis zu sehen. Nach dem zweiten Drittel hatte Wolfgang schnell geduscht, um sich den Rest des Spiels mit mir gemeinsam anzusehen. Danach gab es im VIP-Raum des EHC ein großes Buffet für alle Beteiligten und ich bekam die Summe des gesammelten Geldes mitgeteilt. Ich freute mich sehr, dass es so viele liebe und hilfsbereite Menschen gab, die an meinem Schicksal Anteil nehmen. Mit Hilfe der Spenden der drei Aktionen und der Gelder, die auf einem separaten Spendenkonto eingegangen waren, konnte ich zum Beispiel den notwendigen behindertengerechten Umbau meiner Wohnung bezahlen. Ich möchte allen Spendern von ganzem Herzen danken.

Durch die vielen Zeitungsberichte über mich und meine Erkrankung, die diversen Benefiz-Veranstaltungen und die damit verbundene Öffentlichkeit haben sich zudem viele Menschen bei mir gemeldet und auf unterschiedlichste Art und Weise ihre Hilfe angeboten. Außerdem bekam ich die Möglichkeit, in einem Artikel in aller Kürze meine Geschichte zu schildern. Es ist sehr wichtig, eine relativ unbekannte Erkrankung wie die Amyotrophe Lateralsklerose mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Darüber hinaus war es mir ein persönliches Anliegen, möglichst vielen Menschen mitzuteilen, was ich habe und wie sich die ALS bei mir äußert. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass sie mich aus ihrer eigenen Unsicherheit heraus entweder gar nicht beachten oder so tun, als hätten sie mich nicht gesehen bzw. erkannt. Noch schlimmer ist es jedoch, wenn mich die Menschen in ihrer Unwissenheit behandeln, als wäre auch mein Kopf nicht mehr so schnell wie früher. Auch wenn ich mich nur noch im Schneckentempo bewegen kann und langsam und undeutlich spreche, sind meine Gedanken nach wie vor sehr schnell, klar und komplex. Kein Grund also, in irgendeiner Weise Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich erlebe es aber immer noch, dass mit mir sehr langsam, deutlich und ganz besonders laut gesprochen wird. Die Sätze sind dabei meistens kurz und einfach, so dass ich mich manchmal wirklich frage, wer hier offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank hat! ;o) Mittlerweile kann ich aber schon ganz gut darüber hinwegsehen und manchmal sogar darüber lachen.

Nach dem ganzen Trubel der letzten Wochen war ich seit Jahren zum ersten Mal wieder froh, dass nun Weihnachten vor der Tür stand. Ruhe und Besinnlichkeit war genau das, was ich jetzt brauchte. Zudem fuhren meine Eltern für fast zwei Wochen zum Langlaufen in die Ramsau nach Österreich. Herrlich! ;o) Stefan verbrachte die Tage bei mir in Wolfsburg und wir genossen die gemeinsame Zeit. An drei Tagen in der Woche kam meine Freundin Karin vorbei, um mit Judy und mir rauszugehen, mir bei Dingen zu helfen, die ich allein nicht mehr schaffe oder einfach nur um mit mir zu quatschen. Wir hatten zwar einige Jahre keinen Kontakt mehr, aber als sie von meiner Erkrankung erfuhr, meldete sie sich irgendwann bei mir. Sie hatte gerade eine schwere gesundheitliche Krise überwunden und war auf der Suche nach einem Job. Da ich wusste, dass ich in Wolfsburg jemanden brauchen würde, der mir etwas hilft, während meine Eltern bei der Arbeit sind, bot ich Karin diesen Job an. So war uns beiden mit einem Schlag geholfen, auch wenn wir wussten, dass es wahrscheinlich nur eine vorübergehende Lösung sein würde. Wenn Karin bei mir war, konnte Stefan in Ruhe laufen oder einkaufen gehen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich bin aber sonst auch oft allein und im Gegensatz zu anderen kann ich es mit mir ganz gut aushalten. Eigentlich bin ich sogar wirklich gern mal allein. Die häufige körperliche Nähe zu anderen Menschen ist nämlich immer noch ungewohnt und anstrengend für mich und ich bin manchmal ziemlich genervt, wenn andauernd irgendjemand an mir rumfummelt. ;o) Ich bin jedes Mal froh, wenn ich nach der morgendlichen Hilfe, meiner täglichen Therapie und dem Frühstück endlich für ein paar Stunden meine Ruhe habe. Für 2003 nahm ich mir vor, mehr Zeit für mich und auch mehr Pausen einzuplanen und einzufordern.

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