Meine Geschichte 2009/1

2009/1

Genauso turbulent ging es im neuen Jahr weiter. Ich hatte ja schon häufiger darüber nachgedacht, ob es – auch in Anbetracht unserer familiären Situation – für uns alle nicht von Vorteil wäre, wenn ich in meiner eigenen Wohnung lebend durch eine 24-Stunden-Pflege versorgt werden würde. Meine Mutter sagt fast täglich, dass sie sich überfordert fühle und sich neben meinem Vater, dem Haus und ihrem eigenen Leben nicht mehr auch noch um mich und meine Belange kümmern könne – es ist alles viel zu viel für eine Person. Obwohl ich versuche, mich außerhalb der Versorgung durch meine Pflegekräfte so unsichtbar wie möglich zu machen, entsteht ihr Arbeit, die sie einfach nicht mehr leisten kann, die ihr über den Kopf wächst und sie an den Rand ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit bringt. Ich stehe vor der unlösbaren Aufgabe, natürlich möglichst wenig zusätzliche Arbeit machen zu wollen, bedingt durch die Schwere meiner Erkrankung, den voranschreitenden Krankheitsverlauf, letztendlich aber immer mehr Hilfe zu benötigen. Die einzig vernünftige Lösung ist eine 24-Stunden-Pflege. Im Grunde müsste ich inzwischen sogar rund um die Uhr betreut werden, denn ich gerate oft mehrfach am Tag in beängstigende Situationen, aus denen ich mich allein nicht mehr befreien kann. Mal fällt mir der Kopf herunter – nach vorne, nach hinten oder zur Seite – und ich bekomme ihn ohne fremde Hilfe nicht wieder nach oben. :o( Mal verschlucke ich mich so stark – an einem kleinen, versteckten Krümel vom vorangegangenen Essen, an meiner reichlich vorhandenen Spucke oder einfach nur an etwas geschluckter Luft –, dass ich im schlimmsten Fall beim Husten die Stabilität bzw. das Gleichgewicht im Oberkörper verliere. All diese unfreiwillig eingenommenen Positionen sind nicht nur unbequem und schmerzhaft, sie erschweren auch das Atmen ungemein. Das Verschlucken bzw. Veratmen wird jedoch erst durch meine aufkommende Panik zu einer richtigen Gefahr – die Angst nicht genug Luft zu bekommen, allein zu sein und mir selbst nicht helfen zu können, schnürt mir erst recht die Kehle zu. Daher schien es wie eine Fügung zu sein, als mir ein Bekannter keine Hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt eine optimal geschnittene Wohnung zur Miete anbot. Ich war sofort voller Begeisterung und neuer Hoffnung! :o) Nachdem ich die Räume gedanklich bereits eingerichtet hatte, kam ich jedoch zu der ernüchternden Erkenntnis, dass die notwendigen Renovierungs- und Umbauarbeiten inklusive der Organisation des Umzugs unmöglich bis Februar umzusetzen waren. Rasch machte sich Enttäuschung breit, denn ich ging davon aus, dass ich ohne eigene Wohnung keine 24-Stunden-Pflege genehmigt bekäme. Die Argumentation meiner Krankenkasse war aber doch eine ganz und gar andere: Ohne Beatmung keine 24-Stunden-Pflege! Aha…na klar…Strafe muss sein!!!

Aber der Januar hatte auch sehr erfreuliche Überraschungen parat. Erst erfüllte sich mein Wunsch des Wiederaufbaus meiner Bücherregale im Schlafzimmer. Nina und Mirko übernahmen die ganze Schlepperei, mein Vater hatte die korrekte Umsetzung meiner Planung im Auge und meine Mutter hatte meinen Vater im Auge, damit er sich vor lauter Elan, endlich mal wieder irgendetwas tun zu können, nicht übernahm. Dann durchbrach der Counter meiner Homepage am 9. Januar die Schallmauer von einer Millionen Klicks …1.000.000 – unglaublich! Noch unglaublicher war allerdings die Tatsache, dass ich meinen mit mir selbst geschlossenen Deal „ein Preis – ein Buch“ wirklich und wahrhaftig in die Tat umsetzen konnte. Eine Frau, ein Wort! :o) Bereits im vergangenen Sommer hatten mehrere große Verlage Interesse gezeigt, meine Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Recht schnell fiel meine Wahl auf den Rowohlt Verlag und ehe ich mich versah, waren Fragen wie die Covergestaltung und die Titelauswahl Themen die mich intensiv beschäftigten. Während ich mich bei der Covergestaltung voll auf die Erfahrungen des Verlags verließ und – nach kurzen Zweifeln – der Verwendung eines Bildes von mir aus dem Mai 2000 begeistert zustimmte, hatte ich bei der Suche nach einem Titel schon eine konkrete Vorstellung. „Ich bin eine Insel“, so sollte mein Buch heißen. Durch die ALS fühle ich mich wie eine Insel – nicht nur gesellschaftlich, sondern auch körperlich, gedanklich und emotional bin ich über die Jahre zu einem ruhigeren, unberührten, abgeschiedenen, manchmal auch einsamen, aber niemals isolierten, Ort geworden. Dem Verlag gefiel der Titel, jedoch empfahlen sie, durch den Zusatz „Gefangen im eigenen Körper“ deutlich zu machen, dass es sich um ein Sachbuch handelt und nicht etwa um einen Roman.

 

„Ich bin eine Insel. Gefangen im eigenen Körper“

 

Komische Vorstellung, diesen Titel im August tatsächlich auf einem echten Buchcover zu sehen, gemeinsam mit meinem Bild und meinem Namen. :o) Meiner in diesem Fall völlig unterentwickelten Vorstellungskraft wurde nun aber ziemlich eindrucksvoll auf die Sprünge geholfen: Die Verlagsvorschau der Sachbücher, die von Mai bis Oktober 2009 im Rowohlt Verlag als Taschenbuch erscheinen, war gedruckt und ging ab Januar deutschlandweit in den Buchhandel. Zwischen Dirk Nowitzki und Armin Rohde fand ich auf einer ganzen Seite die Ankündigung meines Buches – eines Buches, das physisch noch gar nicht da war. Meine Geschichte existierte zwar schon auf meiner Homepage, jedoch musste diese noch überarbeitet, gekürzt und an mehreren Stellen auch ergänzt werden. Langeweile würde bei mir in den kommenden Monaten somit garantiert nicht aufkommen. Ab sofort war mein Buch jedenfalls im Buchhandel vorbestellbar und ich schon jetzt sehr auf die Resonanz gespannt. Buch bestellen. Die Reaktion der Medien war überraschend groß und vielfältig – 3sat berichtete in der Sendung „neues“, inwiefern der Grimme Online Award mein Leben verändert hat, diverse Zeitschriften sowie regionale und überregionale Zeitungen meldeten ihre Interviewwünsche an.

Ich sah dem ganzen Rummel relativ gelassen entgegen. Eine Interviewanfrage löste allerdings sowohl bei mir als auch im Rowohlt Verlag allgemeine Schnappatmung aus – Roger Willemsen wollte für die ZEIT mit mir über mein Leben, die ALS und mein Buch sprechen!!!!! :o) Das Interview sollte an sehr prominenter Stelle im ZEITmagazin erscheinen, nämlich auf der letzten Seite, die bisher dem Gespräch von Helmut Schmidt und Givonni di Lorenzo vorbehalten war. Ab März würde Roger Willemsen seinen Gesprächspartnern die Schlüsselfrage „Warum machen Sie das?“ stellen und mit seiner Kolumne Helmut Schmidt als festes Format ablösen. Ach du grüne Neune, jetzt ging mir der Popo doch ganz schön auf Grundeis! Ich war total verunsichert – konnte ich diesem intellektuellen Niveau gerecht werden, was würde Roger Willemsen mich fragen und was sollte ich ihm bloß antworten??? Aber schon seine erste Mail nahm mir jegliche Bedenken, er war charmant, witzig und natürlich sehr wortgewandt. In unserem Fall würde er ein Email-Interview vorschlagen und es am liebsten in Wechselrede schreiben. Dabei könne ich gerne auch nur in einem Wort erwidern, ihn zurechtweisen, ihm wörtlich einen Vogel zeigen, jedenfalls jeden Weg gehen, der mir behagt. Bereits mit meiner Antwort waren wir im Gespräch und unterhielten uns in den kommenden sechs Wochen ausführlich und ungewöhnlich. So, jetzt konnte mich erstmal nichts mehr schrecken! Weder die Nachricht, dass mit Jaqueline schon wieder eine meiner Pflegekräfte den Pflegedienst verließ und durch Nadine, eine ebenfalls junge, sehr nette aber eher ruhige Krankenschwester, ersetzt werden sollte, noch die Erfahrung meines ersten Sturzes seit über vier Jahren. Und das kam so: Ich war mit Kerstin zum Toilettengang im Bad, stand danach wie immer mit ihrer Hilfe auf, fand wie immer meinen sicheren Stand und Kerstin begann wie immer hinter mir stehend meine Hosen hoch- und meine Oberteile herunterzuziehen. Als ich darauf wartete, dass sie mir – quasi als stilles Zeichen, dass dieser Vorgang nun abgeschlossen ist und sie jetzt kurz weggeht, um den Rolli zu holen – wie immer mein Oberteil noch einmal glatt streicht, bemerkte ich, dass mein Stand doch nicht so sicher war. Ich gab wie immer einen leisen Laut von mir und rechnete fest damit, sie wie immer noch hinter mir zu haben, doch da war niemand mehr. Eine Sekunde später fand ich mich nicht wie immer zwischen ihren Armen sondern zwischen meinen Klamotten auf der Kleiderstange rechts von mir wieder. Halli hallo hallöle! :o) Kerstin hat sich total erschrocken, denn ich bin gefallen wie ein gefällter Baum – aufrecht, wehrlos, stumm. Für mich kam dieser Sturz derart überraschend, dass ich sogar zu überrascht war, um überhaupt überrascht zu sein. Mir fehlte dieser Moment, in dem man sich erschreckt, weil man begreift, dass man jetzt gleich fällt. Eben stand ich, plötzlich lag ich und dazwischen: nichts, gar nichts! Als klar wurde, dass ich mich nicht verletzt hatte und mir nicht einmal etwas weh tat, heulten wir beide erst mal zusammen und Kerstin fragte: „Mensch, warum hast du denn nichts gesagt?“ Hallo? Seit wann können Bäume sprechen? Und was hätte ich sagen sollen? „Achtung, Baum fällt!“ :o)

Den Februar „verbrachte“ ich fast ausschließlich mit drei Menschen: meiner Lektorin Angela Troni, dem Fragensteller Roger Willemsen und Topmodel Heidi Klum. Zum allerersten Mal seit Entstehung meiner Homepage las ich meine Geschichte von vorne bis hinten komplett durch und überarbeitete die vorgeschlagenen Änderungs- und Kürzungswünsche der Lektorin. Zu meiner Überraschung fiel mir das leichter als ich dachte. :o) Das lag sicherlich an ihrem einfühlsamen Umgang mit meinen Texten und dem Wissen, dass ich meistens das letzte Wort haben würde. Im Gegenzug markierte ich dann diejenigen Passagen, die ich weglassen, kürzen oder umformulieren wollte. Daraus entwickelte sich eine ganz tolle Zusammenarbeit, die mir unglaublich viel Spaß gemacht hat. Eine Herausforderung war allerdings ihre Frage, ob ich eventuell einen Leitspruch, eine Danksagung oder Widmung in mein Buch aufnehmen möchte. Herrje, darüber hatte ich bisher ja überhaupt noch nicht nachgedacht. Das Leitzitat von Bertold Brecht meiner Homepage wollte ich nicht als Leitspruch übernehmen, und auf Biegen und Brechen einen anderen zu finden, sagte mir auch nicht zu – also kein Leitspruch! Eine Danksagung war noch schwieriger zu formulieren, denn wo sollte ich da anfangen? Bei meinen Eltern, ohne die ich ja gar nicht hier wäre. Bei Thomas und Detlef, ohne die es meine Homepage nie gegeben hätte. Bei NDR 2, ohne die ich wahrscheinlich nicht auf den Grimme Online Award aufmerksam geworden wäre. Bei mir selbst, für meinen (Über-) Mut, mich überhaupt für diesen Preis zu bewerben. Bei der Jury, die meine Homepage nominiert hat. Bei allen Menschen, die abgestimmt haben und ohne die ich den Publikumspreis niemals gewonnen hätte. Oder beim Rowohlt Verlag, ohne deren Aufmerksamkeit es mein Buch nicht geben würde. ??? Also blieb nur die Widmung. Ich entschied mich für den Menschen, der am wenigsten von mir haben wird – Luca. Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich mein Buch so indirekt auch Nina und Mirko, meinen Eltern und meinen im letzten Jahr verstorbenen Omas gewidmet hatte, da der kleine Sonnenschein ohne sie alle gar nicht für uns strahlen könnte… entstehungstechnisch meine ich. :o) Stichwort Entstehung: Auch der wöchentliche Austausch mit Roger Willemsen war sehr fruchtbar und unser Gespräch wuchs und gedieh prächtig. Ich hatte bereits Bedenken, mit meinen langen Antworten den für das Interview zur Verfügung stehenden Rahmen zu sprengen, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte seine Fragen einfach nicht kurz oder nur in einem Wort beantworten. Und dann, ganz am Ende unserer Unterhaltung gelang es mir doch, denn auf diese Frage gab es für mich nur eine mögliche Antwort: unbedingt! Wen jetzt die dazugehörige Frage interessiert, liest am besten unser Interview im ZEITmagazin – guckst du hier! Stichwort Gucken. Im Februar waren mal wieder meine Haare fällig und meine Friseurin Tanja kam zu mir, um ein bisschen zu schnippeln und ganz viel zu sabbeln. Als wir uns nach ihrer Auszubildenden Jessica erkundigten, die im letzten Jahr noch geholfen hatte, meine Strähnchen zu färben, ließ Tanja die Bombe platzen: „Jessica hat sich doch bei Germany’ s next Topmodel beworben!“ Ich dachte erst „Ach so“ und dann „Wer, wie, was – wo hat sie sich beworben?“ Aber ich hatte mich nicht verhört, Jessica war tatsächlich zum ersten offenen Casting von Germany’ s next Topmodel in Köln gegangen. Von da an klebte ich jeden Donnerstagabend vor der Mattscheibe und bei jeder neuen Entscheidung an den Lippen von Heidi – bis zum Finale…naja fast!

Der Februar endete mit einem Debüt, denn ich hatte zum ersten Mal seit meiner ALS-Erkrankung persönlichen Kontakt mit einem anderen Betroffenen. Oliver Jünke und ich „kannten“ uns zwar schon länger und wir schrieben uns hin und wieder, aber nun schlug er vor, mich auf dem Weg zu seinen Eltern besuchen zu kommen. Und weil Oliver nicht nur ein sehr positiver sondern auch ein sehr hartnäckiger Mensch ist, kam es für mich nach neun Jahren zur Premiere. :o) Wie es sich für eine Premiere gehört, war ich zunächst total aufgeregt und unsicher – würden wir uns im wahrsten Sinne des Wortes verstehen? Aber je näher der Tag rückte, desto ruhiger wurde ich. Als Oliver und sein Pfleger Jörg schließlich mit seinem Bus vorfuhren, war ich die Ruhe selbst. Dafür sprang nun meine Mutter wie ein HB-Männchen herum und bestaunte die vielen technischen Hilfsmittel, die dieses besondere Auto beherbergte – Elektrorollstuhl, Rampe, Lifter. Oliver hat im letzten Jahr gemeinsam mit Angela Jansen den Verein ALS-mobil e.V. gegründet. Beide sind seit einigen Jahren an ALS erkrankt. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen möchten sie anderen Betroffenen ein breites Spektrum an Beratung, theoretischer und praktischer Hilfe bieten sowie den speziellen Mobilitätsanspruch kompensieren. Durch die Vielzahl medizinischer Geräte wie Beatmungs- und Absauggerät, Sprachcomputer usw. können die öffentlichen Verkehrmittel häufig nicht genutzt werden. Ziel ihres Vereins ist daher, mit Hilfe von Spendengeldern einen von Zeiten und Stadtgrenzen unabhängigen Fahrdienst speziell für ALS-Betroffene aufzubauen. ALS-mobil e.V. informiert, berät und unterstützt Betroffene und deren Angehörige in Fragen der Versorgungsmöglichkeit, der Mobilität sowie in der Neugestaltung persönlicher Lebenskonzepte. ALS drängt die Betroffenen oft in die gesellschaftliche Isolation und führt in eine persönliche wie auch finanzielle Abhängigkeit. Viele Erkrankte finden keinen Ausweg aus dieser sozialen Sackgasse – und genau dabei wollen Angela und Oliver mit ihrem Verein ALS-mobil e. V. helfen. :o) Auch mir bzw. uns bot Oliver seine beratende Unterstützung an, die vielen verwirrenden Informationen bezüglich der verschiedenen Pflegekonzepte zu entwirren und zu ordnen. Dafür waren wir sehr dankbar, denn sich allein durch diesen Paragraphendschungel zu kämpfen war nahezu unmöglich. Naja, Olli hatte es ja auch alleine geschafft – und das bekam ich von diesem Tag an auch permanent aufs Brot geschmiert. Bei allem was ich tat oder sagte, hieß es „Olli sagt dies, Olli sagt das“, „Olli hat dies gemacht, Olli hat das gemacht“ oder „Ich glaube nicht, das Olli sich in dieser Situation so und so verhalten würde.“ Mann, manchmal ging mir Oliver ganz schön auf die Nerven – natürlich nicht er persönlich sondern der ständige Vergleich mit ihm. :o) Schon früher als Teenager war ich oft an diesen angeblich alles besser könnenden Über-fünf-Ecken-Vergleichskindern verzweifelt. Damals interessierte es mich einfach nicht die Bohne, was der Neffe des Bruders der Freundin des Sohns von Bekannten tat oder nicht tat – und grundsätzlich hat sich daran auch bis heute nichts geändert.

Aber Ausnahmen bestätigen ja bekanntlich die Regel: Als sich im vergangenen Jahr die Tochter des Sohns der Schwester des Vaters meiner Mutter, mit anderen Worten: die Tochter des Cousins meiner Mutter bzw. meine Großcousine, Eva-Maria, bei mir meldete, war ich sehr interessiert. Zum einen natürlich, weil wir uns zuletzt 1984 bei einem großen Familientreffen gesehen hatten. Zum anderen, weil sie seit einigen Jahren als freie Journalistin arbeitete und – ohne Kenntnis unseres Verwandtschaftsverhältnisses – von der Zeitschrift Brigitte eine Anfrage bekommen hatte, ein Portrait über mich zu schreiben. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mal einen Artikel in der Brigitte füllen würde und dass diesen dann auch noch meine eigene Großcousine verfassen könnte, wäre mir nicht im Traum eingefallen! :o) Anfang März kam Eva-Maria zu Besuch, und obwohl wir uns ja nicht wirklich kannten, war da doch eine gewisse Vertrautheit. Sie begleitete mich für einen Tag, verfolgte meine Therapie, beobachtete interessiert den Toilettengang, das Anreichen meines Frühstücks und die anschließende Medikamentengabe. Und sie hatte Fragen – viele Fragen! Als ich eine Pause brauchte, zog sich Eva-Maria zurück und legte mit meiner Mutter ein zweites Frühstück ein. Nachmittags zeigte ich ihr, wie ich mit meiner Bildschirm-Tastatur schreibe, meine Homepage pflege und meine Umfeldsteuerung bediene. Eva-Maria war bei allem sehr aufmerksam, achtete auf kleinste Details und machte sich eifrig Notizen. Später, als meine Freundin Kerstin (Guffel) wie fast jede Woche zu ihrem Donnerstags-bei-Sandra-Besuch vorbeikam, verabschiedete sich Eva-Maria und düste zurück nach Hamburg. In den kommenden Wochen verarbeitete sie ihre gesammelten Informationen, Eindrücke und Erfahrungen zu einem sensiblen und außergewöhnlich gut geschriebenen Portrait – Brigitte Obwohl ich wusste, dass Eva-Maria mich und mein Leben beschrieb, dass es meine eigenen Worte waren und die Zitate von mir stammten, war es trotzdem merkwürdig, dass es in diesem Artikel tatsächlich um meine Person ging! Auch die Unmengen an Post, in denen immer wieder meine Kraft und mein Mut bewundert wurden, und die Absender anzweifelten, dass sie in einer solchen Situation so einen Lebenswillen entwickeln könnten, brachten mich ins Grübeln. Bin ich das? Bin ich so? Habe ich mich wirklich der ALS, ihrer möglichen Ursachen, ihrer Auswirkungen und Folgen, gestellt oder mache ich nicht doch in Wirklichkeit das, was ich schon mein ganzes Leben lang gemacht habe – weglaufen? :o( Habe ich vielleicht sogar in der Krankheit eine zugegebenermaßen sehr harte, aber zugleich auch bequeme Form des Weglaufens gefunden? Laufe ich weg ohne laufen zu müssen…ohne laufen zu können? Bin ich aus meinem Leben in die ALS geflüchtet? Und wenn ja, kann ich dann nicht auch wieder zurück flüchten?

Fragen über Fragen auf die ich noch keine Antworten gefunden habe und die mich wohl auch noch länger beschäftigen werden. Ablenkung fand ich im abschließenden Korrekturlesen meines Buchs. Durch die drei verschiedenen Kerstins und zwei Katjas in meinem Freundeskreis kam es bei meiner Lektorin einige Male zur Verwirrung und damit auch zu lustigen Verwechslungen – meine Freundin Katja wurde versehentlich mit dem falschen Mann verheiratet, Kinder erhielten eine namensgleiche, personell aber völlig „falsche“ Mutter und meine Ergotherapeutin Katja hatte bereits ihre erste Ehekrise noch bevor sie ihren heutigen Mann Torsten überhaupt kannte. :o) Letzteres habe sogar ich trotz meiner berüchtigten Adleraugen übersehen! Ich hatte zwar schon immer ein gutes Auge, aber seit meiner Erkrankung habe ich das Gefühl noch mehr zu sehen bzw. mit nur einem Blick mehr Informationen, Veränderungen und Details wahrnehmen zu können – mit anderen Worten: ich sehe (fast) alles. Während die Welt um mich herum immer schneller und hektischer wird, führt die ALS zu einer extremen Entschleunigung. Ich glaube, ähnlich wie bei Blinden die anderen Sinne geschärft werden, versucht mein Körper die zunehmende körperliche Langsamkeit nicht nur durch eine bessere optische sondern auch durch eine bessere akustische Wahrnehmung auszugleichen – mit anderen Worten: ich höre auch (fast) alles. Und es kommt noch schlimmer, denn, wie die meisten Frauen, bin auch ich multi-tasking-fähig. :o) Ich kann eine Mail lesen, darüber nachdenken, was ich heute noch alles erledigen möchte, nebenbei mit meinen Mädels quatschen und trotzdem dem Nachrichtensprecher im Radio oder Fernsehen zuhören. Denken, sprechen, sehen und hören, alles gleichzeitig – manchmal frage ich mich allerdings, ob das in meiner Situation Fluch oder Segen ist, denn andere Menschen haben oft Probleme, meinen Wahrnehmungen, den damit verbundenen Gedanken zu folgen. Ein lustiges Beispiel ergab sich beim morgendlichen Haare waschen mit Kerstin. Sie war gerade dabei, ein intensiv nach tropischen Früchten duftendes Shampoo auszuspülen, die noch intensiver riechende Haarkur einzumassieren und mir von ihrem „Highlight“ des gestrigen Tages zu erzählen, als ich meine Mutter und Tina auf dem Treppenabsatz eine Etage über uns schnüffeln hörte. Sie schnüffelten wie die Hasen und meine Mutter fragte Tina: „Riechen Sie das auch?“ Tina bejahte und die beiden schnüffelten weiter. Mir war sofort klar was sie da riechen und ich machte Kerstin auf die Häschen aufmerksam. Sie verstand zunächst nur Bahnhof, aber als sie den Zusammenhang gecheckt hatte, lachten wir uns erstmal scheckig. Als meine Mutter irgendwann anfing, ein totes Tier als Ursache des „süßlichen Verwesungsgeruchs“ zu vermuten, bat ich Kerstin lautstark zu protestieren und die beiden aufzuklären. Meine Haare sind zwar tot, aber so tot nun auch wieder nicht! :o)

Apropos tot – das Absterben meiner wenigen noch vorhandenen Nervenzellen führte dazu, dass auch immer weniger Muskeln ihrer eigentlichen Aufgabe nachkamen und mein körperlicher Zustand mehr und mehr zu Wünschen übrig ließ. Große Probleme machte mir mein linkes Bein. Nicht nur, dass mein Fuß im Fußgelenk ständig umknickte, auch der Klonus trat zunehmend häufiger auf…natürlich immer gerade dann, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen konnte. Das alles machte das Stehen nicht gerade einfacher und ich musste meine Technik anpassen, um nicht wieder den gefällten Baum zu geben. Nach wie vor stützte ich mich mit meiner rechten Hand auf dem Griff des Rollators und mit der linken auf dem Haltegriff an der Wand ab. Neu war die Verlagerung meines Körperschwerpunktes. Um nicht so leicht das Gleichgewicht zu verlieren mimte ich den buckligen Glöckner von Notre Dame. Ich beugte meinen Kopf und meinen Oberkörper mehr nach vorne unten, so dass der Kopf auf dem Haltegriff auflag. So war ich nach rechts, links und vorne „gesichert“, konnte höchstens nach hinten kippen, aber da warteten ja meine Madels auf mich. Insgesamt stand ich noch relativ stabil, doch meine Beine hatten in den letzten Wochen ziemlich an Muskelmasse verloren. Zunächst war mir das gar nicht aufgefallen, aber als ich eine Hose, die ich mir erst vor einem halben Jahr gekauft hatte, anziehen wollte, saß diese ungewohnt leger – mein persönlicher Boyfriend-Stil! Allerdings war dieser Schlabberlook überhaupt nichts für mich und ich bestellte mir ein paar neue Jeans in Größe 27 bzw. 32!!! Als das Packet an kam und Kerstin die Hosen auspackte und hoch hielt, bekam ich fast einen Lachanfall – was war das denn? Die Hosen waren so klein und schmal, da passte vielleicht Barbie rein…oder eventuell noch Victoria Beckham…aber ich?, nie im Leben. Trotz meiner Zweifel probierte ich die Hose an. Ich rechnete fest damit, dass an den Knien Ende Gelände wäre, aber sie flutschte ganz locker über meine Oberschenkel und den Po. Kerstin sagte: „Passt, wackelt und (und das frustrierte mich am meisten) hat Luft.“ Ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, nur noch Streichholzbeine zu haben… :o( Im Laufe meiner Erkrankung gab es immer wieder Dinge, die für mich einfach unvorstellbar waren. Dazu gehören Beinchen wie Barbie, aber auch umklappende Zehen. Als mir eine ALS-Betroffene vor einiger Zeit schrieb, dass sie keine Schuhe mehr tragen könne, weil ihre Zehen beim anziehen nach unten abklappen, hatte ich nur gedacht: Wie soll das denn bitte gehen? Heute weiß ich es, denn auch meine Zehen machen mittlerweile anatomisch völlig unmögliche Sachen. Sie knicken am Grundgelenk komplett nach unten ab, so dass der Zeh praktisch unter der Fußsohle verschwindet. Das ist nicht nur sehr schmerzhaft sondern für mich bis dahin auch unvorstellbar gewesen.

Ich glaube, so oder so ähnlich ist es für meine Familie, Freunde und Pflegekräfte. Viele meiner Probleme können sie sich einfach nicht vorstellen, nicht weil sie es nicht wollten, sondern weil es für einen gesunden Menschen schlichtweg unmöglich ist, meinen körperlichen Zustand wirklich zu begreifen, zu verstehen oder nachzuempfinden. Sie können nicht wissen, welche Kunststücke ich vollbringe, um beispielsweise sicher auf der Toilette zu sitzen, die Balance im Oberkörper zu halten oder zum Trinken an den Wasserhahn zu gelangen. Da müssen ganz viele, vermeintlich unbedeutende Kleinigkeiten zusammen passen, und ich bin mir sicher, jeder in meinem näheren Umfeld hat schon einmal gedacht: „Mensch Sandra, es ist doch nicht so wichtig, ob die Arme nun ein paar Zentimeter weiter vorne oder hinten liegen, ob du gerade oder etwas schräg sitzt oder ob der Rollstuhl ein bisschen weiter rechts oder links steht. Aber wenn es unbedeutend  wäre, würde ich nicht immer wieder die Energie aufbringen, auf genau jene Kleinigkeiten hartnäckig zu bestehen. Kniffelig wird es für mich allerdings in „Zwickmühlen-Situationen“, also in Situationen, in denen der reibungslose oder gefahrlose Ablauf, Erfolg oder Misserfolg, das Gelingen oder Misslingen von diesen Kleinigkeiten abhängt. Das ist wie beim rückwärts einparken: Der Abstand und die Position des Autos muss genau stimmen, der Zeitpunkt und der Einschlagwinkel des Lenkrades muss passen, ansonsten gibt es Beulen und Kratzer. :o) Oftmals ist es so, dass ich das kleine Problem bemerke, meine helfenden Hände ihrerseits aber sicher sind, alles gemacht und auch wie immer gemacht zu haben. Mit anderen Worten, ich weiß in dem Moment: „Oha, so wird das nichts“, und sie fragen sich und mich ratlos: „Warum machst du denn jetzt nicht mit?“ Meine störrische Verweigerungshaltung können sie natürlich überhaupt nicht verstehen und ich bin in der berühmten Zwickmühle. :o( Entweder verweigere ich mich solange, bis wir das Problem durch Zeichen bzw. Worte gelöst haben, oder ich gebe vorher nach und wir laufen sehenden Auges – zumindest was mich betrifft – ins Unglück. Zum Beispiel müssen vor jedem Transfer in den Rollstuhl meine Beine in eine Schrittstellung gebracht werden, um das Aufstehen und die anschließende viertel Drehung zu erleichtern. Je nachdem, ob der Rolli links oder rechts von mir steht, muss mal das rechte, mal das linke Bein nach hinten geschoben werden und das jeweils andere vorne bleiben. Die Regel lautet: Wo der Rolli steht ist vorne! Soll heißen, steht der Rollstuhl links von mir, bleibt auch das linke Bein vorne, ansonsten gibt es nämlich einen schönen Knoten. Was soll ich tun, wenn die Beine zwar in Schrittstellung gebracht wurden, nur in die falsche? Was soll ich machen, wenn sämtliche meiner Kopfzeichen, Brummlaute und Erklärungsversuche nicht verstanden werden? Verweigerung oder Knoten, das ist hier die Frage!

Manchmal, wenn wir uns einfach nicht verstehen und ich keinen anderen Ausweg finde, denke ich mir: „Mir egal, ich mache alles was du willst!“, aber letztendlich muss ich die Folgen ja mit ausbaden…immerhin habe ich den Knoten in den Beinen. In ähnlich komplizierte Situationen geraten wir, wenn beispielsweise vor dem Aufstehen nach dem Toilettengang vergessen wird, den Rollator wieder in Position oder den Rollstuhl in erreichbarer Nähe zu stellen. Denn wenn ich erstmal gedreht wurde und seitlich vor der Toilette stehe, kann man mich nicht mal eben kurz loslassen, um die benötigten Hilfsmittel heran zu holen. In dem Moment, wo sie erkennen, was ich ihnen die ganze Zeit zu vermitteln versucht habe, bricht bei meinen Helfern oft der Angstschweiß aus – bis jetzt haben wir jedoch immer eine Lösung gefunden! :o) Ich weiß, dass ich ziemlich anstrengend sein kann, wenn ich so beharrlich auf all diese Kleinigkeiten hinweise, aber ich möchte eben vermeiden, dass wir in Schwierigkeiten geraten. Alles was ich mache ist logisch und durchdacht und es wäre doch nicht nur unlogisch sondern auch dumm, wenn ich mir Klamotten wissentlich erst falsch herum anziehen lasse, um sie danach wieder aus- und richtig herum anziehen zu müssen. Es wäre doch nicht nur dumm sondern auch ziemlich leichtsinnig, wenn ich mich in den ungebremsten Rollstuhl setzen lasse, obwohl ich weiß, dass er bei dem Versuch mich hinzusetzen nach hinten wegrollen wird. Und es wäre doch nicht nur leichtsinnig sondern auch gefährlich, wenn ich mich hinstellen lasse, obwohl meine Schuhe total rutschig sind und ich sicher bin, dass meine Beine beim Aufstehen bzw. Hinsetzen wegrutschen werden und ich meinen Helfern regelrecht durch die Hände flutsche. Oder etwa nicht? Ende März kam der Frühling und mit dem Frühling kam auch ein alter Bekannter zu Besuch, mein Freund der Husten. :o( Er machte es sich bequem und blieb ganze vier Wochen. Ich verbrachte den April nahezu täglich auf meiner Terrasse in der wärmenden Sonne…hustend versteht sich! Dieser trockene Husten setzte mich wie immer völlig außer Gefecht. Schon bei der kleinsten Anstrengung musste ich hüsteln. Ich konnte keine Mails beantworten, meine Geschichte nicht schreiben, kaum sprechen und essen. Die Gefahr mich zu verschlucken bzw. zu veratmen war mit Husten natürlich noch viel größer als sonst. Am Anfang hatte mich das Verschlucken jedes Mal aufs Neue in Angst und Schrecken versetzt, es war so beängstigend, darauf nicht wie gewohnt mit mehrmaligem kräftigen Husten reagieren zu können. Umso paradoxer erschien mir meine momentane Situation: Jetzt hatte ich Husten, jedoch war dieser nicht die Lösung sondern die Ursache des Verschluckens.

Selbstverständlich konnte ich mich auch ohne Husten prima verschlucken – und ich verschluckte mich oft, an meiner Spucke, an bloßer Luft, beim Trinken und Essen. Im Verhältnis zu dem, was ich alles aß und welche Mengen ich vertilgte, verschluckte ich mich beim Essen jedoch relativ selten ernsthaft. Im Laufe meiner Karriere als professionelle Verschluckerin habe ich mir eigene Vermeidungsstrategien erarbeitet, die ich konsequent einzuhalten versuche. Es gibt drei wichtige Regeln, die ich beim Essen beachten muss. Erstens: Beim Essen wird nicht gesprochen! Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für denjenigen, der mir das Essen anreicht. Denn selbst wenn ich mir fest vornehme nicht zu antworten, reagiere ich doch irgendwie auf das gerade Gehörte…oftmals mit Lachen. :o) Und schon sind wir bei Regel Nummer zwei: Beim Essen wird nicht gelacht! Das Lachen bringt nämlich alles durcheinander und meine Konzentration in Null Komma Nichts auf den Nullpunkt…und Nullpunkte sind immer doof. Somit lautet Regel Nummer drei: Konzentration, Konzentration, Konzentration!!! Ich versuche mich also beim Essen aufs Essen zu konzentrieren, nicht zu sprechen oder zu lachen. Das klingt so einfach, ist es aber nicht, denn nicht selten bin ich es, die meine eigenen Regeln bricht. :o( Zum Glück habe ich inzwischen gelernt mich „richtig“ zu verschlucken. Durch unzählige Selbstversuche fand ich heraus, wie ich mich verhalten muss, um das Verschlucken möglichst kontrolliert ablaufen zu lassen. Auch hier gibt es einige Regeln zu beachten. Bereits bei den ersten Anzeichen eines möglichen Verschluckens nehme ich den Kopf vorne runter auf die Brust, um sicher zu gehen, dass wenigstens die noch nicht zerkauten Nahrungsreste im Mundraum verbleiben und mir keinesfalls in die Quere kommen. Danach heißt es erstmal Ruhe bewahren, auch für meine Helfer – was natürlich viel leichter gesagt als getan ist. Die Schwierigkeit für sie besteht in solchen Momenten darin, nichts tun zu können, außer mir ab und zu den Mund abzuwischen. Ich selbst bin meist relativ ruhig, wie in einem Tunnel. Ich konzentriere mich vollkommen darauf, nacheinander die folgenden Dinge zu tun: husten, räuspern, schlucken, einatmen, ausatmen…immer schön der Reihe nach. :o) Grundsätzlich sind es eher die kleinen Stücke oder sogar nur Krümel, die im Rachen irgendwo hängen bleiben und einen plötzlichen Hustenreiz auslösen. Ich verschlucke mich also nicht an einem Stück Fisch oder einer Nudel, ich verschlucke mich an einem halben Reiskorn oder dem getrockneten Oregano der Tomatensauce. Gerne auch am Zucker auf meinem Latte Macchiato Schaum, losem Puderzucker, Salz oder Pfeffer. Gib mir irgendwas zu essen, ich finde unter Garantie die kleinste molekulare Einheit heraus und verschlucke mich daran – jeder kann etwas!

Den April verbrachte ich wie gesagt hauptsächlich draußen auf meiner Gartenliege. Es war einfach nur schön – die Sonne schien vom blauen Himmel, es war angenehm warm und nicht heiß und ich war endlich meine durch das permanente Anlehnen ans Kissen verursachte Schmerzen an der Ohrmuschel los. Prima, dachte ich mir, dann brauchst du ja auch die verordneten Beruhigungsmittel nicht mehr einzunehmen und ließ sie kurzerhand einfach weg. FEHLER, großer Fehler! :o) Was ich nicht bedacht hatte, mittlerweile war ich nämlich von den Dingern abhängig. Ich bekam Schmerzen, überall, mir tat alles weh, ich fror den ganzen Tag und auch nachts wurde mir trotz Wärmedecke und Körnerkissen nicht warm. Über eine Woche konnte ich mir keinen Reim darauf machen, warum es mir auf einmal derart schlecht ging…bis ich den Zusammenhang erkannte. Meine Schmerzen waren Entzugserscheinungen. Wie blöde konnte man eigentlich sein? Ich gab meinem Körper was er verlangte und schon waren die Schmerzen wie weg geblasen – irgendwie ganz schön gruselig. Das Zauberwort der nächsten Wochen hieß ausschleichen. Nach und nach reduzierten wir die Dosis, indem alle zwei Wochen etwas mehr von der Tablette abgeschnitten wurde. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen! Als mühsam erwies sich auch meine rekordverdächtig langsame Beantwortung der täglich eingehenden Flut an Mails. Ich bekam etwa zehn bis zwanzig Mails beziehungsweise Gästebucheinträge am Tag, konnte aber höchstens fünf beantworten – schon nach kurzer Zeit stapelte sich die Post in meinem Outlook, dass mir ganz schwindelig wurde. Zum Glück habe ich eine kleine Schwester mit zehn flinken Fingern! Nina half mir, einen Großteil der Mails abzuarbeiten – so war ich Ostern wieder einigermaßen up to date. Merci Chérie! :o) Am Wochenende nach Ostern wurde mein Onkel Gerhardt aus Bayern sechzig und feierte seinen Geburtstag extra in der Nähe von Frankfurt, damit die Anreise für meine Eltern, Nina, Mirko und Luca möglich und nicht zu strapaziös war. Obwohl es meinem Vater nicht besonders gut ging, wollte er unbedingt dabei sein und entschied sich mitzufahren. Somit hatte ich sturmfreie Bude – dachte ich zumindest! Die drei Tage waren mit Kerstins Hilfe und der Unterstützung durch den Pflegedienst perfekt durchorganisiert. Meine freie Zeit zwischen ihren Einsätzen wollte ich für mich nutzen – schlafen, laut Musik hören, ohne Unterbrechung Filme schauen und vielleicht auch ein bisschen am Laptop arbeiten, sofern dies mein Husten zuließ. Diese Rechnung hatte ich jedoch ohne meine Mutter gemacht, die nämlich ihre Freundinnen Karin und Elke gebeten hatte, ab und zu bei mir vorbeizuschauen. Ich wusste nichts davon und dementsprechend überrascht war ich, als Minuten nachdem Kerstin gegangen war, plötzlich Karin und Gerd auftauchten. Vor lauter Überraschung habe ich mich zur Begrüßung erstmal heftig an meiner eigenen Spucke verschluckt, na große klasse! Kaum waren Karin und Gerd wieder weg kam Aksana um die Ecke. Sie wollte mir zwar nur kurz irgendetwas mitteilen, aber ich war schon leicht genervt – wenn das so weiter ging, dann würde ich durchdrehen!

Auch Judy war bereits langsam am durchdrehen, sie kam durch das viele bellen müssen und sich anschließend doch freuen dürfen ganz durcheinander. Als Elke sie zwischen den beiden Nachmittagseinsätzen des Pflegedienstes zum Gassi gehen abholen wollte, hatte Judy schon fast keine Stimme mehr. Abends schaute erneut Kerstin vorbei und Stephanie brachte mich schließlich ins Bett und blieb über Nacht – Judy nahm das nur noch teilnahmslos zur Kenntnis. Platt lag sie auf dem Boden und schnarchte wie ein Kerl! :o) Ich weiß nicht, ob es an ihren zehn Hundejahren lag, ob irgendetwas vorgefallen war oder ihr die drei Tage derart zugesetzt hatten, jedenfalls war Judy seit diesem Wochenende verändert. Sie war ruhiger, fauler und entwickelte sich zu einer wahren Pupsmaschine. Wenn ich mit ihr alleine im Wohnzimmer war, hatte ich ganz schlechte Karten – Judy pupste in einer Tour vor sich hin und ich starb auf dem Sofa sieben Tode. So ein Hundepups steht in der Luft, da helfe, wie meine Pflegekraft Daniela scherzhaft bemerkte, nur wegatmen! :o) Das war jedoch nicht das einzige, was mir Sorgen bereitete. Judy wollte plötzlich auch das Haus bzw. den Garten nicht mehr verlassen, nicht mal, wenn Renate und Clifford sie zum Gassi gehen abholen wollten. Das war echt merkwürdig, denn normalerweise ist Judy beim Klingeln meines Handys vor Freude fast ausgeflippt und konnte es kaum erwarten raus zu kommen. Jetzt musste Renate mit Engelszungen auf sie einreden und quasi in Ketten abführen, damit sie überhaupt mit ging. Vielleicht war Judy aber auch nur sehr sensibel und nahm bereits Dinge wahr, die wir erst später erkennen mussten. Anfang Mai ging es meinem Vater so schlecht, dass er erneut ins Krankenhaus kam, und auch seinen 66-Geburtstag in dieser trostlosen Umgebung verbringen musste. :o( Wenige Tage später wurde Renate mit massiven gesundheitlichen Beschwerden ins Krankenhaus gebracht. 2009 hatte schon so deprimierend angefangen. Bis dahin war – zumindest meines Wissens nach – keiner der Betroffenen, die sich auf meiner Homepage vorgestellt hatten, verstorben. Ende Februar erreichte mich jedoch die traurige Nachricht, dass Ilona Siegfried gestorben war. Ein paar Wochen danach erfuhr ich vom Tod Detlef Meißners im März, im April verstarb Reiner Leinen und im Mai erschütterte mich eine Mail, in der mir eine liebe Freundin von Charlotte Beck sagte, dass Charlotte gegangen war. All diese Todesnachrichten erschreckten mich sehr, nicht nur weil wir uns durch die persönliche Schilderung ihrer Geschichte und diverse Mailkontakte „kannten“, sondern auch weil ich alle vier als unheimlich positive und kämpferische Menschen kennen gelernt hatte. Mir wurde wieder mal deutlich vor Augen geführt, wie schnell das Leben vorbei sein kann, und dass ein noch so starker Wille zu leben nicht ausreicht, um dieser Krankheit zu trotzen. Sie wird obsiegen.

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